26.06.2018 15:47 Uhr

WM 1962: Die Schlacht von Santiago

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Die "Schlacht von Santiago" ging als Skandalspiel in die Geschichte ein

Alle vier Jahre wird bei WM-Endrunden Geschichte geschrieben. Während der Weltmeisterschaft in Russland erinnert weltfussball an kuriose Ereignisse und unvergessene Momente. Heute: Die Schlacht von Santiago.

Die WM 1962 in Chile ging als unfairstes Turnier in die Geschichte ein. Wüste Schlägereien, tumultartige Ausschreitungen und skandalöses Verhalten der Beteiligten waren an der Tagesordnung. Die Auswirkungen reichen bis in die Gegenwart.

Zur Überraschung vieler entschied die FIFA im Juni 1956, die WM nicht im fußballbegeisterten Argentinien, sondern im benachbarten Andenstaat auszutragen. Vier Jahre später wurde die Region durch das schwerste Erdbeben des 20. Jahrhunderts erschüttert. Ein Tsunami rollte durch den Pazifik, verursachte Vulkanausbrüche biblischen Ausmaßes und forderte 1600 Menschenleben.

Mehr als zwei Millionen Chilenen wurden zwei Jahre vor dem bedeutendsten Sportereignis in der Geschichte des Landes binnen weniger Stunden obdachlos. Eine Verlegung – gar der Entzug der WM – wurde ob dieser Tragödie vom Weltverband diskutiert. Doch Chile betrachtete die Austragung der Endrunde als nationale Aufgabe und beharrte auf seiner Gastgeberrolle, das Turnier fand wie geplant statt.

Medien sorgen für ersten Eklat

Die Umstände, das Desinteresse der Öffentlichkeit sowie die Geschehnisse auf dem Platz sorgten allerdings dafür, dass bis heute von der "vergessenen WM" gesprochen wird. Allgegenwärtig ist allenfalls noch die legendäre "Schlacht von Santiago", die am 2. Juni 1962 im Estadio Nacional ausgetragen wurde.

Im zweiten Vorrundenspiel der Gruppe B trafen die Chilenen auf Italien. Schon im Vorfeld hatten italienische Medien für Ärger gesorgt und Chile als "verarmte Kippe voller verlorener Frauen" bezeichnet.

Die lokalen Zeitungen entfachten ihrerseits eine anti-italienische Stimmung und schürten regelrechten Hass auf die Azzurri. Die Mannschaften setzten die Fehde auf dem Platz unentwegt fort.

Tritte, Schläge und ein Nasenbeinbruch

Es dauerte keine zwölf Sekunden, bis Schiedsrichter Ken Aston das erste Foul pfeifen musste. Schon in der 8. Minute sprach der Unparteiische gegen den Italiener Giorgio Ferrini den ersten Platzverweis aus. Gelbe und Rote Karten gab es damals noch nicht; also bat der Schiedsrichter den Italiener dem Reglement entsprechend, den Rasen zu verlassen. Ferrini weigerte sich und musste schließlich von der Polizei vom Feld geführt werden.

Der Platzverweis war die Initialzündung zu einer beispiellosen Kettenreaktion. Den Akteuren auf dem Rasen brannten in der Folge sämtliche Sicherungen durch, alle bis dato bekannten Regeln wurden von ihnen außer Kraft gesetzt.

Faustschläge, Tritte gegen Kopf, Körper und Beine, Ohrfeigen und Rudelbildung prägten das Geschehen auf dem Rasen.

Schiedsrichter vergleicht Spiel mit Militärmanöver

In den letzten Minuten musste die Polizei mehrmals einschreiten, um wilde Schlägereien zu unterbinden. Negativer Höhepunkt war ein heftiger linker Haken von Leonel Sanchez gegen Humberto Maschio. Er brach dem Italiener das Nasenbein, wurde vom völlig überforderten Schiedsrichter Aston aber nicht belangt. Dass Chile letztlich mit 2:0 gewann, geriet zur Nebensache. Das Spiel hatte weltweit für Bestürzung gesorgt.

Der britische Journalist David Coleman leitete den Bericht in der "BBC" mit den Worten ein: "Guten Abend. Das Spiel, das Sie nun sehen werden, ist die dümmste, entsetzlichste, ekelhafteste und beschämendste Vorstellung von Fußball, wahrscheinlich das schlimmste Spiel in der Geschichte dieses Sports."

Ähnlich sah es auch Schiedsrichter Aston. Nach Abpfiff sagte er: "Ich habe kein Fußballspiel gepfiffen, ich war der Obmann eines Militärmanövers."

Die Erfindung der Gelben und Roten Karte

Ken Aston galt bis zu diesem Spiel als hervorragender Schiedsrichter. Nach der "Schlacht von Santiago" aber sollte er nie wieder bei einer Weltmeisterschaft pfeifen. Trotzdem ließ ihn dieses Erlebnis auch nach Jahren noch nicht los.

Dass sich etwas ändern musste, war für den Engländer spätestens bei der WM 1966 offensichtlich. Als der Schiedsrichter beim Spiel seiner Three Lions gegen Argentinien der Lage nicht gewachsen war, dachte Aston - mittlerweile Vorsitzender der FIFA Schiedsrichterkommission – über Veränderungen nach.

Am folgenden Morgen stand er an einer Ampel an der Londoner Kensington Street, die gerade von Gelb auf Rot sprang – und hatte einen Geistesblitz. Die Gelbe und Rote Karte war erfunden. "Yellow: take it easy, red: stop, you are off", sollten die Karten nach seiner Vorstellung nach bedeuten. Diese Idee und die Tatsache, dass ein Entscheider des Weltverbandes sie hatte, sollten den Fußball nachhaltig und für immer verändern.

Jens Fennel

Mehr dazu:

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>> die Partie im Spielschema