17.06.2017 09:34 Uhr

1970: Das Jahrhundertspiel von Mexiko

Alle Augen auf den Ball: Das Halbfinale sollte in die Geschichtsbücher eingehen
Alle Augen auf den Ball: Das Halbfinale sollte in die Geschichtsbücher eingehen

Alle vier Jahre wird bei WM-Endrunden Geschichte geschrieben. Während der Weltmeisterschaft in Russland erinnert sport.de an kuriose Ereignisse und unvergessene Momente. Heute: Das legendäre Jahrhundertspiel von Mexiko.

Am 17. Juni 1970 brannte die Sonne auf das prall gefüllte Aztekenstadion in Mexiko-Stadt hernieder. Bei Temperaturen jenseits der 40 Grad warteten über 100.000 Zuschauer in brütender Hitze auf das WM-Halbfinale zwischen dem amtierenden Europameister Italien und dem Vizeweltmeister aus Deutschland. Noch ahnte niemand, dass sie Zeugen eines fußballhistorischen Events werden sollten.

Die Begegnung begann jedoch alles andere als spektakulär. Die Mannschaft vom Stiefel ging mit ihrer ersten Torchance in der achten Minute in Führung und versuchte fortan, den knappen Vorsprung zu verwalten.

Sie ließen sich fallen, sie spielten auf Zeit, sie nutzten jede Möglichkeit der Spielverzögerung, was sogar den sonst eher kühlen Radioreporter Kurt Brumme auf die Palme brachte: "Mein Gott, ist das ein Fußball hier. Das ist ja entsetzlich, das ist ja widerlich. Burgnich ist soeben verstorben, sehe ich. Nein, da kommt er wieder", echauffierte sich der Mann vom "Westdeutschen Rundfunk" über die Fallsucht des italienischen Verteidigers.

Glutofen und Höhenluft

Das folgende Anrennen der deutschen Nationalelf gegen das italienische Abwehrbollwerk glich Don Quijotes Kampf gegen Windmühlen. Der Glutofen Aztekenstadion und die Höhenluft in Mexikos Hauptstadt sorgten zudem für einen raschen Kräfteverschleiß.

Als sich Libero Franz Beckenbauer knapp 20 Minuten vor Schluss auch noch die Schulter ausrenkte und schwer gehandicapt zu Ende spielen musste, schwanden die Hoffnungen auf ein erneutes Wunder.

Schon eine Runde zuvor war die Elf um Sepp Maier, Berti Vogts, Uwe Seeler und Co. über 120 Minuten marschiert. Das Viertelfinale gegen England war von der deutschen Presse bereits voreilig zum Jahrhundertspiel stilisiert worden, nachdem das DFB-Team einen 0:2-Rückstand drehte und dank Gerd Müllers Tor in der zweiten Hälfte der Verlängerung triumphierte – doch es sollte nur die Vorspeise zum Hauptgang gewesen sein.

"Ausgerechnet Schnellinger"

Es lief bereits die Nachspielzeit und keine Menschenseele glaubte, nach über 30 Torschüssen auf das Gehäuse von Keeper Enrico Albertosi, mehr an ein Wunder – selbst der Schütze zum 1:1-Ausgleich hatte die Partie gegen die Squadra Azzurra damals schon abgeschrieben. "Ich habe gedacht, wenn der Schiedsrichter abpfeift, bin ich schneller in der Kabine", begründete Verteidiger Karl-Heinz Schnellinger seinen spontanen Vorstoß in den gegnerischen Strafraum.

Während der Italien-Legionär das Leder per eingesprungener Grätsche über die Linie beförderte, brannte sich der Ausruf "ausgerechnet Schnellinger" des TV-Kommentators Ernst Huberty in die deutschen Fußballherzen.

Schnellinger spielte damals beim AC Mailand und stand zuvor bei Mantova und dem AS Rom unter Vertrag. Es sollte zudem sein einziges Tor in 47 Länderspielen bleiben.

Vom Fußball ruiniert

Es folgte die wohl verrückteste Verlängerung der Fußballgeschichte, in der Müller in der 94. Minute die 2:1-Führung erzielte. Doch ein Doppelschlag durch Tarcisio Burgnich und Luigi Riva drehte den Spieß noch im ersten Abschnitt um.

Den 3:3-Ausgleich besorgte wiederum der Bomber der Nation, ehe Gianni Rivera, seines Zeichens Europas Fußballer des Jahres 1969, den 4:3-Siegtreffer markierte.

Nach Spielschluss schrieb der Gesichtsausdruck von Trainer Helmut Schön Bände: "Das war zu viel", stieß er sichtlich angeschlagen hervor. Einen Tag später beschrieb der SPD-Abgeordnete Hans Hermsdorf stellvertretend für eine ganze Nation deren Gefühlszustand: "Ich bin vom Fußball völlig ruiniert!"

Mexikos ewige Dankbarkeit

Trotz des Ausscheidens wurden auch die Bundesadler bejubelt: "Die Deutschen haben es verdient, wie Weltmeister gefeiert zu werden", hieß es nach einem "gigantischen Kampf" in der mexikanischen Zeitung "El Sol". Für die "FAZ" war bereits damals der Stellenwert dieses Spiels klar: "Wer es gesehen hat, wird es nie vergessen."

Heute erinnert eine Gedenktafel im Estadio Azteca die Besucher: "Das Azteken-Stadion erweist den Nationalmannschaften Italiens (4) und Deutschlands (3), Hauptdarstellern des 'Jahrhundertspiels' vom 17. Juni 1970 bei der Weltmeisterschaft 1970, die Ehre".

Was ebenfalls in Erinnerung bleibt, ist die beste WM aller Zeiten, ein Spiel mit zwei Siegern und die Erkenntnis, dass zwei Jahrhundertspiele in nur drei Tagen stattfinden können.

Das Jahrhundertspiel im Video:

Nico Schrimpf