26.06.2014 10:51 Uhr

Chile: Sampaoli auf den Spuren von "El Loco"

Jorge Sampaoli
Jorge Sampaoli

Als Spion im Baum, während einer Bildungsreise auf der Straße geschlafen: Chiles Jorge Sampaoli ist kein gewöhnliche Trainer. Genau wie sein Vorbild.

Jorge Sampaoli fuhr hunderte Kilometer mit dem Auto durch die Nacht, dann versteckte er sich in einem Baum. Mit dem Fernglas in der Hand beobachtete Sampaoli jede Regung, jede Anweisung seines Gurus Marcelo Bielsa. Es war nur ein Training, ein stinknormales Training, das Bielsa leitete. Doch für Sampaoli war und ist jedes Training, jeder Gedanke Bielsas über Fußball viel mehr - fast schon eine religiöse Erweckung.

"Bielsa ist ein Ideal und eine Inspiration für mich", sagt Sampaoli, der Trainer und Anführer der wilden Kerle aus Chile, dem Favoritenschreck bei dieser WM in Brasilien. Auch Pep Guardiola von Bayern München bezeichnet den Argentinier, der im Sommer Olympique Marseille übernimmt, als Vorbild.

Der Verrückte

In Südamerika nennen sie Bielsa nur "El Loco", den Verrückten. Doch Sampaoli ist mindestens genau so obsessiv wie sein Vorvorgänger als Trainer von La Roja. Als Amateurcoach in der Provinz von Argentinien, Peru oder Ecuador versteckte sich der heute 54-Jährige nicht nur in Bäumen, sondern tourte auf eigene Rechnung auch durch Europa, um sich in Spanien, Italien und den Niederlanden neue Ideen, neue Impulse zu holen. Das Geld war schnell alle. "Das Schwierigste war, dass wir manchmal nichts zu essen und keinen Ort zum Schlafen hatten", sagt Sampaoli - also kampierte er so manche Nacht auf der Straße.

Schlaf ist für Sampaoli ohnehin nur vergeudete Zeit. Vier Stunden träumen muss reichen, spätestens um fünf Uhr morgens klingelt sein Wecker und Sampaoli stürzt sich in die Arbeit - Videoschulung, Taktikanalyse, Trainingsvorbereitung. Vor den Einheiten stellt Sampaoli, der mit seiner Glatze ein bisschen aussieht wie "Meister Proper", selbst die Hütchen mit so viel Liebe und Akribie auf, als wären sie der Heilige Gral. Chiles Stürmer-Ikone Ivan Zamorano nennt ihn zu Recht "Arbeitstier". Die Familie blieb bei so viel Hingabe indes auf der Strecke. "Ich habe sie dem Fußball geopfert", sagt er und scheint es nicht zu bereuen: "Es ist nun mal, wie es ist."

"Nie wieder Fußball"

Sampaolis Weg zum Trainer von Chile, der ihn bis ins Achtelfinale gegen das große Brasilien geführt hat, ist mehr als erstaunlich. Er wuchs in der echten Pampa Argentiniens auf und musste als 19-Jähriger nach einem doppelten Beinbruch die angestrebte Karriere als Profi begraben. "Nie wieder Fußball", schwor er sich und wurde zunächst Bankangestellter und in seinem Heimatdorf Casilda Friedensrichter. Dann trat Bielsa in sein Leben, der Anfang der 90er Jahre Sampaolis Lieblingsklub Newell's Old Boys trainierte - Sampaoli nahm sogar Pressekonferenzen seines Idols auf, um sie sich immer wieder auf dem Walkman anhören zu können.

Wie 2010 unter Lehrmeister Bielsa sind die Chilenen unter Sampaoli in diesem Jahr wohl wieder das kompromissloseste Team der WM - Attacke, Attacke und nochmals Attacke. Spaniens Trainer Vicente del Bosque nannte den Stil nach dem 0:2 in der Vorrunde "selbstmörderisch" - Sampaoli hat das gefallen.

Mit den unnachahmlichen Arturo Vidal (früher Bayer Leverkusen) und Alexis Sanchez (FC Barcelona) hat er ein Team von Kriegern geformt, das leidenschaftlich verteidigt und in der Offensive wie ein wild gewordener Schwarm Moskitos über den Gegner herfällt. "Wir gehen jedes Spiel an, als wäre es unser letztes", sagt Sampaoli - das soll am Samstag auch Brasilien zu spüren bekommen. Wenn Chile erstmals seit 1962 wieder ein WM-Viertelfinale erreichen sollte, wäre sicher auch Bielsa stolz auf seinen Jünger.

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>> Zum Liveticker Brasilien - Chile (Samstag ab 18:00 Uhr)

sid