08.07.2014 09:03 Uhr

4:0 - Darum gewinnt Deutschland

Heute wollen Joachim Löw und Co. den nächsten Schritt zum vierten WM-Titel gehen. Dafür muss allerdings eine enorme Hürde überwunden werden - im Halbfinale wartet der Gastgeber aus Brasilien (im weltfussball-Liveticker). Die Bilanz spricht dabei deutlich gegen den DFB. Wir zeigen auf, warum es dennoch reichen könnte.

Torhüter:

Spätestens nach seinen haarsträubenden Patzer im Viertelfinale der WM 2010 hatte Júlio César Soares de Espíndola die letzten Sympathien innerhalb Brasiliens endgültig verspielt. Kein Wunder also, dass die Kritiker im Vorfeld dieser Endrunde die Nominierung des 34-Jährigen, der aktuell in der nordamerikanischen Profiliga kickt, unverhohlen als Fehler betitelten. Spätestens seit dem Elfmeterschießen gegen Chile ist diese Ansicht jedoch schlagartig aus dem Gedächtnis einer ganzen Nation verschwunden. Der vermeintliche Schwachpunkt parierte drei Strafstöße und avancierte schlagartig zum WM-Helden! Zuletzt verursachte er gegen Kolumbien allerdings einen Elfmeter.

Die englische Presse feiert ihn als sweeper-keeper, in Deutschland schreibt man vom Torwart-Titan 2.0, dem Eiswürfel oder dem Reflexmonster – Manuel Neuer strahlt aktuell ein Gefühl von Sicherheit aus, wie es sonst nur Mutters Schoß für einen Dreijährigen zu tun vermag. Gab es noch Zweifler an der Ausnahme-Stellung des Bayern-Schlussmanns, sind diese inzwischen sicher verstummt.

Fazit: Júlio César hat bei seiner wohl letzten WM eine ganze Nation im Rücken und dürfte nach seinem Auftritt gegen Chile auf Wolke sieben schweben, doch mit der Klasse Neuers kann der Brasilianer einfach nicht mithalten. Also: Klasse gewinnt gegen Emotion!

 

Abwehr:

Mit Thiago Silva und David Luiz innen sowie dem Duo Marcelo und Dani Alves stellt der Gastgeber die wertvollste Abwehrreihe der WM – soweit, so gut. Allerdings wirkte gerade die hochgelobte Innenverteidigung nicht immer sattelfest und gegen die DFB-Elf fehlt mit Thiago Silva ein wichtiger Baustein gelbgesperrt. Für Silva dürfte Bayerns Dante auflaufen, der gegen seine Wahlheimat zwar hochmotiviert ist, die Klasse des Parisers aber nicht aufweist.

Ob Hummels/Mertesacker, Mertesacker/Boateng oder Hummels/Boateng – die deutsche Innenverteidigung machte zumeist einen stabilen Eindruck und sorgt zudem bei Standards stets für Gefahr vor dem gegnerischen Kasten. Anders sah das über weite Strecken auf den Außenpositionen aus, wo Joachim Löw mit Boateng, Mustafi und Höwedes meist ungelerntes Personal aufbot. Nachdem der Bundestrainer gegen Frankreich jedoch endlich wieder Philipp Lahm hinten rechts aufbot, war von dieser Schwäche kaum noch etwas zu sehen. Zumal Höwedes nach anfänglichen Problemen inzwischen grundsolide agiert.

Fazit: Wäre Thiago Silva dabei, würde unser Fazit anders ausfallen. So hat das DFB Team allerdings die Nase einen Hauch vorne. Das beweist auch ein Blick auf die blanke Statistik: Während Hummels (36 Ballgewinne), Boateng (34) und Höwedes (34) unter den besten Sieben Spielern der WM rangieren, folgt der erste aus Brasiliens Abwehrverbund auf Rang auf Rang 14 - und das ist ausgerechnet der gesperrte Silva.

 

Mittelfeld:

Vorweg das große Plus: Luiz Gustavo kehrt nach seiner Gelbsperre gegen den DFB zurück ins Team. Ein nicht zu vernachlässigender Umstand, bedenkt man, dass der Wolfsburger bislang der überragende Abfangjäger der Seleção ist und als sicherer Ballverteiler agiert. Damit kommen wir jedoch auch schon zum Schwachpunkt Brasiliens: Dem Heimatland von Garrincha, Zico, Rivaldo und Pelé fehlt einfach der Taktgeber mit dem Funken Genialität. Einzig Chelseas Oscar ließ aufblitzen, dass er über diese Fähigkeiten verfügt. Dennoch, im Land des Zauberfußballs ist Fußball aktuell mehr denn je reine Arbeit.

Deutschlands vermeintliches Prunkstück schwächelt unerwartet. Denn mit Mesut Özil und Mario Götze suchen die beiden wohl talentiertesten Techniker des Teams bislang vergeblich ihre Form. Dafür macht der Mittelblock mit fortschreitendem Turnierverlauf einen immer besseren Eindruck. Die im Vorfeld verletzten Khedira und Schweinsteiger finden langsam aber sicher zu gewohnter Stärke und mit Toni Kroos hat das deutsche Team einen Ballverteiler der Extraklasse in seinen Reihen. Zudem zeigte sich André Schürrle, von der Bank kommend, zuletzt in bester Spiellaune und mit Julian Draxler hat Löw noch einen hochtalentierten Kreativspieler in der Hinterhand.

Fazit: Die größere Vielfalt, die tiefere Bank und vor allem die ansteigende Form der Doppelsechs sprechen für Deutschland. Bei Brasilien wird viel von der Form Oscars abhängen. Gefährlich wird es lediglich, wenn sich das DFB-Team von der geballten Zweikampfstärke der Gastgeber überrumpeln lässt. Joachim Löw ist also gefordert.

 

Sturm:

Neymars Aus war ein Stich ins Herz des ganzen Landes. Zurecht, stach Barcelonas Ballkünstler bislang aus dem Team hervor wie ein Mammutbaum aus einem Feld Kopfsalat. Der 22-Jährige erzielte vier Buden selbst, bereitete einen Treffer vor und dribbelte sich beeindruckende 21 Mal erfolgreich durch die gegnerischen Reihen. Neben dem Superstar herrschte jedoch meist spielerische Magerkost. Klar, Hulk kann den Ball aus dem Nichts auf Überschallgeschwindigkeit beschleunigen und ist so immer ein Gefahrenherd, doch der Angreifer semmelt das Leder meist über oder neben das Tor des Gegners, kein anderer Spieler schoss häufiger, ohne das Tor zu treffen. Die "Nebendarsteller" Fred und werden der deutschen Defensive hingegen kaum den Angstschweiß auf die Stirn treiben.

Miroslav Klose ist der erfahrenste Kicker im deutschen Team, mit 15 WM-Toren nur vom großen Ronaldo erreicht und eine lebende Legende. Bleibt die Frage, ob der 36-Jährige gegen Brasilien, wie zuletzt gegen Frankreich, überhaupt von Beginn an auf dem Feld stehen wird. Die Alternative heißt Thomas Müller, der mit seinen Galavorstellungen in der Vorrunde bewiesen hat, dass er auch im Sturmzentrum überzeugen kann.

Fazit: Um es mit den Worten von Pep Guardiola zu sagen: Neymar oder nix! Durch die Verletzung des Topstars liegt Deutschland auch in diesem Mannschaftsteil in Front. Am Ende spricht die Erfahrung für das deutsche Team. Auch wenn Klose keines seiner 15 Tore nach dem Viertelfinale schoss.

 

 

Marc Affeldt