05.04.2015 12:35 Uhr

Bielsa: Angriff ist die beste Verteidigung

Hat einen klaren Plan: Marcelo Bielsa
Hat einen klaren Plan: Marcelo Bielsa

Unter Marcelo Bielsa hat Olympique Marseille zu alter Stärke zurückgefunden. Der kauzige Argentinier steht wie kaum ein anderer für spektakulären Angriffsfußball. Dafür wird "El Loco" gefeiert – und gleichzeitig kritisiert.

Die letzte Saison hat bei den leidenschaftlichen Fans von Olympique Marseille Spuren hinterlassen. Satte 29 Punkte fehlten im Sommer 2014 auf die Tabellenspitze. Als Tabellensechster rauschte der stolze Klub meilenweit an seinen Zielen vorbei, die Angst vor dem Sturz ins Mittelmaß machte die Runde.

Ein knappes Dreivierteljahr später sieht die Welt wieder anders aus. Im Topspiel gegen Tabellenführer Paris Saint-Germain (ab 21 Uhr im Liveticker) haben Les Phocéens die große Chance, sich eindrucksvoll im Rennen um den Titel zurückzumelden.

Möglich gemacht hat es allen voran Marcelo Bielsa. Nach dem Motto "Angriff ist die beste Verteidigung" setzt argentinische Kult-Trainer auf bedingungslose Offensive. Ein Tor mehr als der Gegner schießen lautet die Devise des 59-Jährigen, der nicht um sonst den Spitznamen "El Loco" (der Verrückte) trägt.

Vom Angriff besessen

"Ich bin vom Angriff besessen", sagt Bielsa über sich selbst. "Für die Abwehr ist die gesamte Mannschaft verantwortlich. Dafür gibt es höchsten fünf oder sechs verschiedene Regeln. Die Optionen in der Offensive aber sind unendlich," begründet der Argentinier seine Sicht vom Fußball, die in seinen Augen die einzig richtige ist.

Abwarten und auf Fehler des Gegners lauern? Das ist nicht sein Ding. Die Initiative ergreifen, sich Chancen erarbeiten und lieber 4:3 als 1:0 gewinnen schon eher. "Wenn das Team mit der größten Kreativität gewinnen würde, würden wir nur schönen Fußball sehen. Aber heute haben viele Mannschaften einzig und allein das Ziel, die Kreativität des Gegners zu neutralisieren. Das ist schlecht für den Fußball", glaubt der 59-Jährige.

Guardiola schwärmt

In seinen neun Monaten in Marseille ist es dem Trainer gelungen, dem Team seine Philosophie einzuimpfen. Mit 60 Toren nach 30 Spielen stellt OM die beste Offensive der Liga. Kein Team in der Liga gibt pro Spiel mehr Torschüsse ab (16), keine Mannschaft schlägt pro Partie mehr Flanken (27) und keine Elf hat mehr Tore aus dem Spiel heraus erzielt (39). Die Flucht nach vorne ist der bevorzugte Weg.

Ein Weg, den Bielsa zwischen 2011 und 2013 auch in Bilbao wählte und zu beeindrucken wusste. "Ich empfinde große Wertschätzung für jemanden, der so mutig spielen lässt. Es ist ein Geschenk, dass eine Mannschaft in der Liga spielt, von der wir alle lernen können", schwärmte unter anderem der damalige Barca-Trainer Pep Guardiola von seinen Duellen gegen den Argentinier.

Was den Bielsa-Fußball ausmacht? "Seine Mannschaften sind sehr aggressiv und lassen dich nicht atmen. Sie kommen mit sieben Leuten bei dir im Strafraum an. Wenn sie den Ball verlieren verteidigen sie mit elf Mann. Es geht pausenlos hoch und runter," so Guardiola.

Keine Kompromisse

Die Grundlagen für diese Spielweise vermittelt der Argentinier seinen Spielern in mitunter stundenlangen Videoanalysen und Trainingseinheiten. "Er weiß einfach alles, bis ins letzte Detail", gibt Stürmer André-Pierre Gignac einen kleinen Einblick. "Einmal habe ich die Trainingspläne gesehen. Es gibt hunderte davon. In jedem einzelnen sind Elemente von Spielen, die er analysiert hat."

Die Ausarbeitung bis ins kleinste Detail, die Besessenheit von seiner Idee und seine schier unendliche Akribie zählen zu den größten Stärken des Fußballlehrers, den Pep Guardiola einst als "besten Trainer Welt" adelte. Bielsa verlangt viel von sich selbst – und mindestens genauso viel von seinen Spielern. Zieht einer nicht mit, findet er sich auf der Bank oder aber auf der Transferliste wieder. Kompromisse geht der Argentinier nur selten ein.

Kurze Halbwertszeit

Die Kehrseite der Medaille: Mit seinen Methoden eckt der 59-Jährige an. Als Trainer der chilenischen Nationalmannschaft trat er nach Unstimmigkeiten mit der Verbandsführung zurück. Kaum in Marseille angekommen, kritisierte er öffentlich die Transferpolitik der Vereins, der seine Wünsche nicht erfüllte. Dass der Argentinier bei keinem Klub länger als zwei Jahre im Amt war, ist kein Zufall.

Auch die Spieler haben es unter ihm nicht immer leicht. Die risikoreiche Taktik fordert ihren Tribut. Während sich die Stürmer vorne austoben, wirken seine Mannschaften hinten unorganisiert. Defensive Mittelfeldspieler und Verteidiger sehen oftmals alt aus. Die pausenlose Hatz auf dem Rasen kostet zudem Kraft. Kraft, die am Ende der Saison schon Bielsas Mannschaften in San Sebastian und Bilbao fehlte. 

Und auch OM steckt momentan in einer schwierigen Phase. Die beiden einzigen Siegen in den letzten sieben Spielen gab es gegen die Kellerkinder aus Lens und Toulouse. In der Rückrundentabelle liegen die Südfranzosen nur auf Rang zwölf. "Die Kurve kriegen" lautet daher die Devise vor dem Gipfeltreffen mit Paris. Am besten mit bedingungsloser Offensive. So, wie es Marcelo Bielsa am liebsten hat.

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Christian Schenzel