18.06.2015 15:49 Uhr

Young Lions: Eine neue Zeitrechnung?

Harry Kane bereitet sich mit der englischen U21 auf die EM vor
Harry Kane bereitet sich mit der englischen U21 auf die EM vor

Die Top-Talente des Kontinents versammeln sich dieser Tage in Tschechien, um die stärkste Nation im U21-Nachwuchsbereich zu küren. Zum Kreis der Titelfavoriten zählt neben der deutschen Truppe auch das englische Starensemble um Shootingstar Harry Kane. weltfussball wirft einen genaueren Blick auf die Young Lions, die in ihrer Heimat Teil einer landesweiten Debatte sind - und eine neue Zeitrechnung einleiten sollen.

Hierzulande fällt es nicht immer leicht, die Stimmungslage der englischen Fans zu verstehen. Einerseits feiern die Anhänger den neuen TV-Vertrag, der den Vereinen der Premier League zukünftig neunstellige Summen pro Saison garantiert. Auf der anderen Seite wächst die Kritik am Transferwahnsinn auf der Insel, der jährlich neue Investitionsrekorde mit sich bringt und die Liga mit Top-Spielern aus dem Ausland flutet.

Nicht erst seit dem frustrierenden Vorrunden-Aus der Three Lions bei der WM 2014 ist im Mutterland des Fußballs deshalb eine heftige Debatte um mangelnde Talentförderung entbrannt. Kein Wunder: In der vergangenen Saison besaßen gerade einmal 35% der Profis in der Premier League einen englischen Pass.

Immer wieder werden Rufe nach einer Ausländerquote laut, doch die mit Abstand reichste Liga der Welt wehrt sich mit Händen und Füßen gegen Reglementierungen bei der Kaderplanung. Mit einem aufsehenerregenden Brandbrief haben Kevin Keegan und weitere Ex-Trainer der englischen Nationalmannschaft erst kürzlich die Reformpläne von Verbandschef Greg Dyke unterstützt, der im März einen Fünf-Jahres-Plan zur Verbesserung der Situation von Eigengewächsen besonders bei den Spitzenklubs in der Premier League vorgelegt hatte

"Diese Entwicklung darf nicht weitergehen", mahnten die Trainer: "Unsere jungen Spieler bekommen bei den Vereinen vieles geboten, nur eines nicht: Spielpraxis." Als Beleg diente der Kader des englischen U21-Teams, das Ende März 3:2 gegen Deutschland gewann: Die Summe aller Premier-League-Einsätze habe gerade einmal 389 Spiele betragen - beim Weltmeister-Nachwuchs des Deutschen Fußball-Bundes betrug der Wert dagegen 987 Partien.

Premier-League-Prominenz im Aufgebot

Auffallend wenig kam dabei zur Sprache, wie stark die Young Lions im Testmatch gegen die Hrubesch-Elf aufgespielt hatten. In allen Mannschaftsteilen tauchen angehende Top-Spieler auf. Beispiele gefällig? In der Viererkette sind mit John Stones vom FC Everton und Arsenal-Star Callum Chambers, im Vorsommer für umgerechnet 20 Millionen Euro vom FC Southampton zu den Gunners transferiert, zwei Talente gesetzt, die unter Roy Hodgson bereits ihr Debüt in der A-Nationalmannschaft feiern durften.

Wie Chambers stammt auch James Ward-Prowse aus der Talentschmiede Southamptons und zieht im Mittelfeld der U21 die Fäden. Gerüchteweise jagen nahezu alle Topklubs den 20-jährigen Strategen. Das Prunkstück der Mannschaft ist die Angriffsabteilung: Danny Ings (11 Saisontore für den FC Burnley, ab Sommer beim FC Liverpool unter Vertrag) geht gemeinsam mit Goalgetter Harry Kane (31 Pflichtspieltreffer für Tottenham) auf Torejagd. Der dritte Mann im Bunde musste kurzfristig absagen: Saido Berahino, der West Bromwich mit 14 Buden zum Klassenerhalt schoss, wird das Turnier verletzungsbedingt verpassen. Für Nationalcoach Gareth Southgate ein kleiner Rückschlag vor dem ersten Gruppenspiel gegen Portugal.

Der Scharfschütze einer neuen Generation

Allzu tief dürften die Sorgenfalten auf der Stirn des Ex-Nationalspielers allerdings nicht ausfallen. Zum Aufgebot gehört mit Kane schließlich der unumstrittene Shootingstar der abgelaufenen Premier-League-Saison. Selten war dieser Begriff treffender als beim Spurs-Torjäger, der im wahrsten Sinne des Wortes aus allen Lagen auf den gegnerischen Kasten feuerte und mit beeindruckender Kaltschnäuzigkeit zum zweitbesten Ligaknipser hinter Sergio Agüero avancierte. Er ist Teil einer neuen Generation von modern spielenden englischen Talenten, die weit mehr verkörpern als Kick and Rush.

In diese Kategorie fallen auch prominente Namen wie Ross Barkley, Raheem Sterling, Alex Oxlade-Chamberlain und Luke Shaw, die allesamt für die U21 spielberechtigt wären, jedoch nicht mit nach Tschechien gereist sind. Das Quartett zählt längst zum Kreis der Three Lions und soll vornehmlich dort gefördert werden. Zudem hat die kräftezehrende Saison in England ihre Spuren bei den Jungprofis hinterlassen.

Mit alten Tugenden zum Erfolg

Nun gilt es von jeher als englisches Dilemma, dass die hohe individuelle Qualität der Einzelspieler zu selten zu einer schlagkräftigen Einheit geformt wird. Zu große Egos, zu wenig Teamgeist – das war jahrelang die englische Crux, wenn die großen Turniere begannen. Diesmal soll alles anders sein: Southgate hat seinen Kader streng nach mannschaftsdienlichen Kriterien zusammengestellt und duldet keine Ausreißer. Zudem scheinen die Young Lions im taktischen Bereich aufgeholt und den schnellen Mix aus Pressing und Gegenpressing, der europaweit längst zum Pflichtprogramm gehört, verinnerlicht zu haben.

In der Todesgruppe B konkurrieren die Engländer mit Italien, Schweden und Portugal um ein Ticket für die K.o.-Phase. Im Kampf um den Einzug ins Halbfinale wollen die Inselkicker auf großer Bühne Eigenwerbung betreiben und beweisen, dass es um die Zukunft des englischen Fußballs besser bestimmt ist, als viele Kritiker derzeit glauben. Kane, Chambers und Co. zählen zu den Titelfavoriten – das deutsche Team sollte gewarnt sein.

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Heiko Lütkehus