23.07.2015 11:00 Uhr

West Ham: Frühstart mit Hindernissen

James Tomkins erzielte im Hinspiel gegen Birkirkara das Siegtor
James Tomkins erzielte im Hinspiel gegen Birkirkara das Siegtor

Während andere noch mitten in der Saisonvorbereitung stecken, muss West Ham United bereits seit Wochen in der Europa-League-Qualifikation ran. Ein schwieriger Balanceakt für die Hammers, die dank der Fairplay-Wertung einen Platz im internationalen Wettbewerb ergatterten. Derweil sind sich Fans und Beobachter uneins, ob die kräftezehrenden Reisen quer durch Europa Fluch oder Segen sind. Die Geschichte eines Vereins, der gezwungen ist, Prioritäten zu setzen.

Für Mark Noble war das Hinspiel gegen den FC Birkirkara etwas ganz Besonderes. Das 28-jährige Urgestein der Hammers feierte nach elf Jahren im weinroten West-Ham-Trikot seine Premiere auf internationaler Bühne. Zwar hätte es durchaus klangvollere Gegner als den letztjährigen Dritten der maltesischen Liga geben können, doch das dürfte angesichts der komplizierten Saisonvorbereitung nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben.

Viel mehr beschäftigt Spieler und Verantwortliche der Londoner, dass durch den Kaltstart in die Europa League und die bevorstehende Mehrfachbelastung ein Jahr voller Probleme bevorstehen könnte. Keine leichten Voraussetzungen für den neuen starken Mann an der Seitenlinie: Slaven Bilić tritt die Nachfolge des umstrittenen Sam Allardyce an und soll den Verein in den kommenden Jahren ins obere Tabellendrittel der Premier League führen. Schon zu seiner aktiven Zeit hatte der charismatische Kroate Spuren am Boleyn Ground hinterlassen, entsprechend hoch sind die Erwartungen an den Rückkehrer.

Schuften, während der Rest Urlaub macht

Seinen Amtsantritt hatte sich Bilić allerdings anders vorgestellt. Als er am 22. Juni – nur vier Wochen nach Ende der letzten Saison – zum Trainingsauftakt bat, stand ihm zunächst nur ein Rumpfkader zur Verfügung. Die Nationalspieler verweilten ebenso wie zahlreiche weitere Stammspieler noch im Urlaub und erholten sich von den Strapazen, die knapp 50 Pflichtspiele in einem Jahr mit sich bringen. Improvisationstalent musste her: Neben blutjungen Kickern aus der eigenen Talentschmiede wurden auch verliehene Spieler wie Mauro Zárate und Modibo Maïga frühzeitig zurück nach London beordert, um in der Frühphase der Saison in die Bresche zu springen.

Für WHUFC-Vizechef David Sullivan ist die personelle und zeitliche Planung in diesem Sommer ein "echter Alptraum". Harsche Worte, die nur allzu deutlich machen, wie zwiegespalten die Europa League in England gesehen wird.

Auf der einen Seite bietet sich die riesige Chance, zum ersten Mal seit neun Jahren auf internationaler Bühne zu glänzen, andererseits wachsen die Sorgen, durch die Mehrfachbelastung in der Liga den Anschluss zu verlieren. Es gilt also, Prioritäten zu setzen – und die liegen im Mutterland des Fußballs traditionell auf den nationalen Wettbewerben.

Große Ehre vs. lästige Pflicht

Die Teilnahme an der Champions League gilt auf der Insel als große Ehre, die Europa League hingegen als lästige Pflicht. Seit Jahren schicken die englischen Teilnehmer ihre Bankdrücker ins Rennen, wenn am Donnerstagabend wieder einmal Vergleiche gegen Teams aus Bulgarien, Norwegen oder Polen auf dem Programm stehen.

International werden diese personellen Rochaden nicht selten kritisch gesehen, doch die Überlegungen der Vereine ergeben Sinn: Ist ein finanziell mäßig lukrativer Wettbewerb wie die Europa League attraktiv genug, um dafür Einbußen im Premier-League-Alltag zu riskieren? Wer die Zahlen des neuen TV-Vertrags der höchsten englischen Spielklasse kennt, wird verstehen, dass Entscheider wie Sullivan und Co. den nationalen Erfolg als Basis für die Konkurrenzfähigkeit betrachten müssen.

Ein zweischneidiges Schwert für die Hammers

Rund um den altehrwürdigen Upton Park, der in seine letzte Saison als Spielstätte der Hammers geht, ist man sich allerdings bewusst, dass die Qualifikation für die Europa League ein Geschenk ist, das es zu würdigen gilt. Da die Konkurrenz aus Manchester, London und Liverpool das Geschehen in der Liga in der jüngeren Vergangenheit dominiert hat, ist für West Ham häufig nur eine Statistenrolle fern der europäischen Fleischtöpfe geblieben. Ihren Tiefpunkt erfuhr die Durststrecke im Sommer 2011, als dem Premier-League-Abstieg als Tabellenletzter eine Saison in der zweitklassigen Championship folgte. Heute ist man stolz darauf, wieder festes Mitglied dieser millionenschweren Liga zu sein – und nach Möglichkeit auch zu bleiben.

Alison Worth, ehemaliges Mitglied im West Ham Supporter Advisory Board, fasst die gespaltene Stimmungslage der Fans treffend zusammen: "Es ist Vorfreude gemischt mit einem Hauch von Angst. Wir können es uns nicht leisten, unseren Premier-League-Status aufs Spiel zu setzen. Es ist ein zweischneidiges Schwert". Mahnende Beispiele für die Tücken der Mehrfachbelastung finden sich zuhauf: Swansea City zog 2013 als Pokalsieger in die Gruppenphase ein, geriet parallel aber in den Abstiegssumpf. Ein Jahr später durfte Hull City in Europa ran, scheiterte dort jedoch kläglich und stieg am Saisonende schließlich sang- und klanglos ab.

Zwischen Testkicks und Europatrips

Um auch in Zukunft nicht in Abstiegsnöte zu geraten, hat West Ham in diesem Sommer schon kräftig investiert: Mit dem französischen Nationalspieler Dimitri Payet hat einer der überragenden Vorbereiter der Ligue 1 den Weg nach London gefunden, zudem verstärken Angelo Ogbonna und Pedro Obiang die Defensive. Zusammen kosteten die Hoffnungsträger mehr als 30 Millionen Euro. Die Neuen sollen über Testspiele an das Tempo und die Belastungen der neuen Liga herangeführt werden, während ein bunt zusammengewürfeltes "Patchwork Team" (Guardian) nach Andorra und Malta reisen muss, um das Weiterkommen im Europacup zu sichern.

Dort hat sich Slaven Bilić gleich in seinem ersten Spiel als Trainer von West Ham unbeliebt gemacht: Weil sich der ehemalige Karlsruher beim Duell mit dem FC Lusitanos nicht auf die Bank setzte und durch Nachwuchstrainer Terry Westley vertreten ließ, warf ihm der wütende gegnerische Coach mangelnden Respekt vor. "Er hat viel gewonnen und fühlt sich wohl als der Special One. Ich hoffe nur, dass das nicht noch einmal passiert und er zumindest zum Rückspiel nach Andorra kommt", polterte Xavi Roura. Um sich weiteren Ärger zu ersparen, reiste der 46-Jährige zähneknirschend mit und sah einen biederen 1:0-Erfolg seines "Europakaders".

Mit ebendiesem Resultat endete auch das Hinspiel gegen Birkirkara: Erst in der 90. Minute traf James Tomkins zum knappen Arbeitssieg für den haushohen Favoriten. Mit Ruhm bekleckert haben sich die Hammers bislang nicht, die Pflichtaufgaben aber allesamt erledigt. Fragt sich nur, wie sich die Situation gestalten wird, wenn die Premier League in zwei Wochen mit dem harten Auswärtsmatch beim FC Arsenal beginnt. Vor und nach dem London-Derby finden die Playoffs zur Europa League statt. Die Prioritäten dürften klar sein.

Mehr dazu:
>> Die 2. Runde der Europa-League-Qualifikation im Überblick
>> Der West-Ham-Kader in der Übersicht

Heiko Lütkehus