07.09.2015 10:00 Uhr

Ikechi Anya: Zur Not auch Wasserträger

Ikechi Anya (l.) erzielte im Hinspiel gegen Deutschland das zwischenzeitliche 1:1
Ikechi Anya (l.) erzielte im Hinspiel gegen Deutschland das zwischenzeitliche 1:1

Sein Treffer gegen Deutschland war der größte Moment in der Karriere des Ikechi Anya. Vor dem Rückspiel gegen den Weltmeister gehört der flinke Außenstürmer zu den großen Hoffnungsträgern der Schotten. Seine Rolle ist ihm dabei egal.

In der Karriere der meisten Profifußballer gibt es den einen Moment, den sie nie vergessen werden. Das Tor im großen Finale, der Lattenkracher in der letzten Spielminute einer wichtigen Partie oder das Reißen des Kreuzbandes zu Zeiten der absoluten Topform.

Für Schottlands Ikechi Anya kam dieser Moment im September 2014: Nach einem öffnenden Pass von Steven Fletcher war der Wirbelwind links frei durch. Er nahm den Ball mit, ging in den Sechzehner – und legte ihn ins rechte Toreck. Es war der 1:1-Ausgleich für den krassen Außenseiter gegen den amtierenden Weltmeister Deutschland.

"Nicht mal bei FIFA"

Zwar währte die schottische Hoffnung auf einen Achtungserfolg nicht lange, am Ende ging die Partie knapp mit 2:1 verloren. Für Ikechi Anya war es dennoch ein ganz besonderer Abend: "Heute habe ich gegen Manuel Neuer getroffen, das schaffe ich normalerweise nicht mal bei FIFA", twitterte er im Anschluss. "In solchen Momenten zahlt sich die harte Arbeit aus. Dass ich für kurze Zeit so viele Leute glücklich machen konnte, ist mehr wert als alles Geld der Welt."

Diese beinahe kindliche Art ist es, die Anya im Laufe der letzten Jahre zum Publikumsliebling der Schotten machte. Und die Bescheidenheit kommt nicht von ungefähr.

Fußball statt Wissenschaft

In frühen Kindesjahren lernte er das Fußballspielen in den Straßen Glasgows: "Er kickte von Sonnenaufgang bis -untergang vor dem Haus gegen das Garagentor", erinnert sich seine Mutter. Was wie das Märchen des klassischen Straßenfußballers klingt, war alles andere als ein vorgezeichneter Pfad. Als Sohn eines nigerianischen Wissenschaftlers und einer rumänischen Ökonomin lag eigentlich eine akademische Laufbahn nahe – zumal die Familie, als Ikechi sieben Jahre alt war, nach Oxford zog.

Während sein Bruder tatsächlich Medizin studierte, wollte Ikechi seine Leidenschaft zum Beruf machen. Die Laufbahn entwickelte sich zunächst jedoch alles andere als steil. Seine ersten Stationen u.a. bei Oxford United oder den Wycombe Wanderers brachten nicht den erhofften Durchbruch. Anfang 20 war er vereinlos und stand vor den Trümmern einer noch jungen Karriere.

Zufluchtsort Glenn Hoddle Academy

In Spanien heuerte er bei der Glenn Hoddle Academy an, einem Zufluchtsort, dessen Ziel es ist, vertragslose junge Fußballer wieder auf Trab zu bringen und sie in die Primera División oder die Premier League zu vermitteln.

Tatsächlich ging es von da an bergauf. Anya lernte spanisch und sammelte bei Sevilla B wichtige Erfahrungen. Nach Engagements bei Celta Vigo, Cadiz und Granada kam er 2012 zurück auf die Insel. Nach Watford, in die zweite englische Liga. Dort steigerte er sich von Saison zu Saison und feierte im vergangenen Sommer sogar den Premier-League-Aufstieg.

Nur wenige Jahre nach dem Nullpunkt ist Anya nun Stammspieler in der reichsten Liga der Welt (er machte bisher alle vier Saisonspiele) und Nationalspieler. Obwohl er sich auch für England (Wohnort), Nigeria (Vater) oder Rumänien (Mutter) hätte entscheiden können, stand für den Jungen aus Glasgow nie zur Debatte, dass er für das Land seines Herzen spielen würde: Schottland.

Die meisten Einsatzzeiten

Zugegebenermaßen: Bis zu jenem Abend im September war Anya den Fußballfans hierzulande kaum ein Begriff. Vor dem Rückspiel in Glasgows Hampden Park ist der 27-Jährige nicht mehr so ein unbeschriebenes Blatt.

In der laufenden EM-Qualifikation stand er 551 Minuten auf dem Platz – und damit am drittlängsten von allen Schotten.

Für Nationaltrainer Gordon Strachan ist der polyvalente Spieler immer eine Option, egal, ob er ein 4-2-3-1, ein 4-4-2 mit Raute oder ein 3-5-2 aufbietet. Eigentlich sieht Strachan Anya auf den offensiven Außen. Aufgrund großer Probleme auf der Position des rechten Außenverteidigers testete er ihn zuletzt allerdings auch mehrfach hinten rechts.

Vielseitig, bescheiden

Warum auch nicht? Die Vielseitigkeit ist Anyas große Stärke. In der Aufstiegssaison von Watford war er zwar Stammspieler, allerdings ohne feste Position. Linkes Mittelfeld, rechtes Mittelfeld, zentral hinter den Spitzen oder eben Außenverteidiger – Anya spielte überall.

Für den 27-Jährigen selbst kein Problem: "Der Trainer entscheidet, wo ich spiele und ich haue immer alles raus." Dabei wäre er sich auch für niedere Aufgaben nicht zu schade: "Wenn der Trainer mich zum Wasserträger machen würde und wir gewinnen würden, wäre ich auch glücklich. Es geht nicht um meine Person. Es geht um die Mannschaft, um den Erfolg – und auch um Schottland."

"Er ist eine Frohnatur"

Solche Aussagen kommen an, Anyas Kultstatus bei den Fans kommt nicht von ungefähr. Und auch Gordon Strachan ist angetan vom positiven Charakter: "Manchmal können Spieler einen Trainer enttäuschen. Aber es gibt auch Jungs wie ihn, die einem zeigen, warum man den Fußball liebt. Er ist eine Frohnatur."

Frohnatur allein wird am Montag (ab 20:45 Uhr im weltfussball-Liveticker) im Hampden Park allerdings kaum reichen. Dann muss Ikechi Anya auch wieder seine Schnelligkeit und seine Spielstärke ausspielen, um seinen Teil zu einem möglichen Wunder gegen den Weltmeister beizutragen. Und das brauchen die Bravehearts dringend. Bei einer Niederlage wäre der Traum von der EM-Teilnahme wohl ausgeträumt.

Ein wahr gewordener Traum ist zumindest Ikechi Anya nicht mehr zu nehmen: der vom Tor gegen den zweifachen Welttorhüter Manuel Neuer. Ein Moment, wie er ihn nicht einmal in FIFA hätte nachspielen können…

Mehr dazu:
>> Alle Länderspiele von Ikechi Anya im Überblick
>> Schotten trotzig vor Deutschland-Spiel

Jochen Rabe