09.10.2015 17:00 Uhr

Oranje-Krise: "...dann bricht der Vulkan aus"

Wesley Sneijder (l.) und Robin van Persie wollen es mit der Elftal noch herumreißen
Wesley Sneijder (l.) und Robin van Persie wollen es mit der Elftal noch herumreißen

Vor den entscheidenden Qualifikationsspielen gegen Kasachstan und Tschechien steht die Niederlande mit dem Rücken zur Wand. Gibt es überhaupt noch Hoffnung? weltfussball spricht mit dem Oranje-Experten Robin Tibbe (Editor in Chief von voetbal.com).

weltfussball: Die Niederlande steht vor den letzten beiden Qualifikationsspielen gegen Kasachstan und Tschechien mit dem Rücken zur Wand. Für einen Platz in den EM-Playoffs müssen möglichst zwei Siege her. Herr Tibbe, wie sehen Sie die Chancen auf eine doch noch gelungene Qualifikation?

Robin Tibbe: Ich bin sicher: Wenn die Niederlande beide Spiele gewinnt, wird sie auch die Playoffs erreichen. Die Türkei hat nicht das nervenstärkste Team und wird unter Druck nicht beide Spiele gegen Island und Tschechien gewinnen. Auch wenn die beiden schon qualifiziert sind, lassen sie sich sicherlich nicht überrennen. Die Türkei wird Punkte lassen. Aber da ist eben auch das „Wenn“ bei Oranje. Ich sehe vor allem beim letzten Spiel eine große Gefahr, weil Tschechien ein Angstgegner ist. Der Vorteil ist, dass wir ein Heimspiel haben, aber es fehlen so viele wichtige Spieler – das wird richtig schwierig. Ich bin skeptisch.

weltfussball: Wie ist die Stimmung im Land? Wie reagieren die Fans auf die Krise? Unterstützen sie ihr Team noch bedingungslos oder sind erste Risse in der Beziehung zwischen Mannschaft und Fans zu spüren?

Robin Tibbe: Bis jetzt glaubt immer noch kein Fan daran, dass es wirklich passieren könnte, dass Oranje sich nicht für die EM in Frankreich qualifiziert. In den letzten Jahren wurden die Zuschauer hier verwöhnt, wir waren immer bei einer WM oder EM dabei. Das ist mittlerweile normal, deswegen geht auch jeder davon aus, dass es die Elftal wieder schaffen wird. Sollte die Quali aber verpasst werden, gibt es einen großen Knall. Dann bricht der Vulkan aus, der hier seit Monaten vor allem wegen der kritischen Medien am Brodeln ist.

weltfussball: Worin sehen Sie die Gründe für die schwache Qualifikationsrunde? Liegen diese eher in der Mannschaft oder eher in der Chefetage?

Robin Tibbe: Da kommen meines Erachtens verschiedene Aspekte zusammen. Louis van Gaal hat bei der letzten WM mehr erreicht, als eigentlich in dieser Mannschaft steckte. Der dritte Platz war vorher eigentlich undenkbar. Dadurch hat er die Messlatte für Qualifikation natürlich extrem hochgelegt. Diese Erwartungen konnten eigentlich nur enttäuscht werden. Vor allem weil die Nachfolger eine andere Linie gefahren sind.

weltfussball: Wie meinen Sie das?

Robin Tibbe: Van Gaal hat die Mannschaft und das Spielermaterial, das ihm zur Verfügung stand, genau analysiert. Ihm war nicht wichtig, was die Leute sehen wollen, er wollte erfolgreich sein. Also hat er die Mannschaft extrem defensiv eingestellt. Das war zwar nicht so attraktiv, aber es hat Ergebnisse gebracht. Seine Nachfolger – sowohl Hiddink als auch Blind – wollten wieder zurück zum offensiven 4-3-3, für das Oranje schon lange bekannt ist. Und das hat mit diesen Spielern nicht funktioniert. Die Mannschaft hat sich in van Gaals System deutlich wohler gefühlt. Durch die neue Ausrichtung sind die Schwächen der einzelnen Spieler zum Vorschein gekommen und durch die ersten Rückschläge hat die Mannschaft ihr Selbstvertrauen verloren. Ich glaube ganz ehrlich: Mit einer defensiveren Taktik wäre Oranje nicht in so ein Loch gefallen.

weltfussball: Welche Rolle spielt die wieder aufgebrochene Verletzungsanfälligkeit des neuen Kapitäns Arjen Robben?

Robin Tibbe: Das spielt ohne Frage eine wichtige Rolle! Arjen Robben ist in vielerlei Hinsicht ein wichtiger Spieler für diese Mannschaft. Er ist ein Routinier, der schon alles im Fußball erlebt hat und er hat die Qualität, das Team mitzureißen. Er ist einer, der Spiele entscheiden kann und von seinem Siegeswillen können junge Spieler vieles lernen. Sein Ausfall hat Oranje viele Punkte gekostet, weil er momentan noch nicht ersetzbar ist. In ein paar Jahren könnte Memphis Depay in diese Rolle hineinwachsen, aber so weit ist er noch lange nicht. Depay ist gut, aber nur ein Robben kann die anderen Spieler alle eine Stufe besser machen. Dass er in den letzten beiden Spielen nicht dabei ist, ist ein riesiger Verlust.

weltfussball: Sollte die Qualifikation tatsächlich misslingen: Welche Konsequenzen hätte das für den niederländischen Fußball?

Robin Tibbe: Vielleicht wäre es gar nicht schlecht für den niederländischen Fußball, wenn man die EM verpassen würde. Hoffentlich wird dann der KNVB endlich mal wachgerüttelt und erkennt, dass nicht alles so toll ist, wie man seit Jahren denkt. Irgendetwas muss passieren, dass Holland auf Klub- und Verbandsebene wieder mithalten kann. Dafür braucht der KNVB aber einen Tritt in den Hintern. Und der kann nur heißen: die EM verpassen! Dann würde es sicherlich auch einigen Offiziellen an den Kragen gehen. Mit Blind als Bondscoach ginge es nicht weiter und wahrscheinlich müsste auch der KNVB-Direktor Bert van Oostveen den Hut nehmen. Vielleicht braucht die Niederlande diesen Schnitt. Wenn man dann die richtigen Leute holt, gibt es Hoffnung, dass einiges wieder besser läuft. Natürlich hoffe ich immer noch auf eine gelungene Qualifikation, aber ganz ehrlich: Ich glaube, die EM wäre kein Spaß. Da würden wir richtig schlecht spielen...

Mehr dazu:
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Interview: Jochen Rabe