20.06.2018 08:01 Uhr

Telê Santana: Der bewunderte Verlierer

Telê Santana bevorzugte das Offensivspektakel
Telê Santana bevorzugte das Offensivspektakel

Telê Santana gilt bis heute als einer der einflussreichsten Trainer seines Heimatlandes Brasilien, auch wenn er mit der Selecao niemals den Weltmeistertitel gewann. 

"Ich verliere lieber ein Spiel als meine Spieler aufzufordern zu foulen, den Gegner zu treten oder durch ein irreguläres Tor zu gewinnen", erklärte Telê Santana einmal seine Grundhaltung. Doch Santana war mehr als ein orthodoxer Verfechter unbedingter Fairness. Er erklärte das "jogo bonito", das "schöne Spiel", zum Prinzip seiner Arbeit an der Seitenlinie. Diese Einstellung schenkte der Fußballwelt bei der Weltmeisterschaft 1982 einige der großartigsten Momente ihrer Geschichte.

Zu Beginn der 1980er Jahre standen der brasilianischen Nationalmannschaft mit Zico, Socrates, Falcao oder Eder einige der begabtesten Spieler seiner Zeit zur Verfügung. Santana verzichtete darauf, seine offensiv ausgerichteten Ballkünstler in ein enges taktisches Konzept zu zwängen. "Fußball ist Kunst, Fußball ist Genuss und es geht nicht darum, den Ball nach vorne zu bolzen." Nach diesem Motto ließ er seine Stars auf dem Platz gewähren.

Brasilien reiste als der Top-Favorit auf den Titel zum Turnier nach Spanien. Nach teilweise deutlichen Siegen über die UdSSR, Schottland, Neuseeland und in der Zwischenrunde über den Erzrivalen Argentinien war sich die internationale Presse einig: Dieses Team war der würdige Nachfolger der Weltmeister-Elf von 1970, der neue Weltmeister konnte nur Brasilien heißen.

Raus mit Stil

Im entscheidenden Spiel um den Halbfinaleinzug gegen Italien wurde das Santana-Team allerdings zum Opfer seines uneingeschränkten Offensivspiels. Die Südamerikaner benötigten lediglich ein Unentschieden zum Weiterkommen, spielten aber kompromisslos auf Sieg und belagerten fast durchgängig den Strafraum der Europäer. Italien gewann dieses vielleicht beste Spiel der Weltmeisterschaftsgeschichte, weil sie sich in ihren wenigen Offensivaktionen auf einen Paolo Rossi in Gala-Form verlassen konnten, der alle drei Treffer für die Azzurri erzielte.

Die Niederlage gegen Italien ging, auf den Ort des Geschehens bezugnehmend, als die "tragédia do Sarrià", als die "Tragödie von Sarria", ins kollektive Gedächtnis der Brasilianer ein. Der Angriffsfußball hatte gegen die italienische Defensivstrategie verloren. Kritiker warfen Santana eine allzu naive Offensivtaktik vor. Nachdem in Rio und Sao Paulo die grenzenlose Enttäuschung abgeebbt war, überwog allerdings der Stolz auf eine Selecao, die das Spiel ästhetisch auf ein neues Niveau gehoben hatte.

Der "letzte Romantiker des brasilianischen Fußballs"

Für zwei Jahre kehrte Santana seinem Heimatland den Rücken, um in Saudi Arabien zu trainieren. Kurz vor der WM 1986 rief der brasilianische Verband den "letzten Romantiker des brasilianischen Fußballs" auf den Trainerposten zurück. Den gealterten Stars fehlte allerdings vier Jahre später der Esprit von 1982. Brasilien scheiterte im Viertelfinale im Elfmeterschießen an Frankreich.

Im Gegensatz zu seiner erfolgreichen Arbeit als Vereinstrainer - Santana gewann zweimal mit Sao Paulo die Copa Libertadores - blieb sein Wirken als Coach der Selecao unvollendet. Dennoch ist es nicht zuletzt dem Wirken Santanas zu verdanken, dass es für einen Trainer der brasilianischen Nationalmannschaft bis heute nicht reicht, lediglich erfolgreich zu sein. Telê Santana starb am 21. April 2006 an den Folgen einer Dickdarminfektion.

Ralf Amshove