29.06.2016 15:05 Uhr

Die Angst des Schützen beim Elfmeter

Mesut Özil scheitert gegen die Slowakei vom Punkt
Mesut Özil scheitert gegen die Slowakei vom Punkt

Deutschland gilt als Weltmeister vom Punkt – unschlagbar, wenn es zum Elfmeterschießen kommt. Zuletzt scheiterten Thomas Müller und Mesut Özil aber gleich mehrfach. Ist eine deutsche Paradedisziplin in Gefahr?

Ja, sie sind angetreten, die Franzosen 1982, die Mexikaner 1986, die Engländer 1990 und dann noch einmal 1996, die Argentinier 2006. Aber sie wussten, dass ihr Tun keine Aussicht auf Erfolg in sich trug, dass sie keine Chance haben würden, den Teutonen, die offenbar Nerven aus Stahl besaßen, in ihrer Spezialdisziplin das Wasser zu reichen. Mochte es deutschen Nationalmannschaften in den zurückliegenden Jahrzehnten noch so sehr an spielerischem Glanz oder technischen Fähigkeiten fehlen, vom Punkt trafen sie so sicher wie ein Schweizer Uhrwerk. Der gesamten Fußballwelt muss es erscheinen, als sei das Elfmeterschießen allein zu dem Zweck eingeführt worden, um die deutsche Elf in die Finals aller wichtigen Turniere zu hieven.

Den deutschen Bundestrainern gibt diese Inselbegabung für die K.o.-Spiele bei den großen Turnieren im Vergleich z.B. zu ihren englischen Amtskollegen andere taktische Möglichkeiten. Muss England ein Spiel innerhalb der 90 bzw. 120 Minuten für sich entscheiden, um die nächste Runde zu erreichen, reicht der deutschen Mannschaft ein Unentschieden. Der Sieger des anschließenden Elfmeterschießens steht eh bereits fest.

Erster Fehlschuss nach 40 Jahren

So war es in den letzten 40 Jahren, seit Uli Hoeneß im Finale der Europameisterschaft 1976 im Elfmeterschießen gegen die CSSR die Kugel in den Belgrader Nachthimmel schoss und damit im ersten Entscheidungsduell vom Punkt mit Beteiligung der Deutschen die erste und letzte Schlappe in dieser Disziplin verursachte.

Seit einigen Jahren lebt die deutsche Nationalmannschaft nicht mehr von den sogenannten deutschen Tugenden. Mesut Özil, Thomas Müller und Toni Kroos bezwingen ihre Gegner nicht durch Kraft und Kondition, sondern durch spielerische Klasse. Was bedeutet dieser Wandel dann für die Erfolgsaussichten in ihrer Spezialdisziplin? Im EM-Gruppenspiel gegen die Slowakei verschoss mit Mesut Özil erstmals seit dem Hoeneß-Fehlschuss von Belgrad wieder ein deutscher Spieler einen Elfmeter bei einer EM.

Das allein wäre kein Grund zur Sorge, war es doch Özils erster Fehlschuss vom Punkt im sechsten Versuch. Allerdings gehen dem DFB-Team so langsam die sicheren Strafstoßschützen aus. Jahrelang galt Thomas Müller als eiskalter Elfmeterschütze, bevor er in der abgelaufenen Saison gleich viermal im direkten Duell mit dem Torhüter scheiterte. In Erinnerung bleibt vor allem der möglicherweise spielentscheidende Fehlschuss im Champions-League-Halbfinale der Bayern gegen Atlético Madrid. Ähnlich traumatische Elfmeter-Erinnerungen trägt Bastian Schweinsteiger, ein weiterer möglicher Schütze in einem Elfmeterschießen bei dieser Euro, mit sich herum. Im Finale der Königsklasse von 2012 scheitert der DFB-Kapitän am Aluminium und verhilft so dem FC Chelsea zum Triumph.

Ignoriere den Torhüter!

Aber woher kommt diese ungewohnte Unsicherheit vom 11-Meter-Punkt? Thomas Müller erklärte einst sein (Erfolgs-)Rezept: Er verzögere beim Anlauf so lange, bis sich der Torhüter bewege und schieße dann ins andere Eck. Was passiert, wenn Torhüter diese Taktik durchschauen und ihrerseits lange warten, bis sie sich für eine Seite entscheiden, konnte man exemplarisch an den Müller-Fehlschüssen in dieser Saison beobachten. Ist der Schuss zu unplatziert, wird der Ball für den Keeper zur leichten Beute.

Müller, Özil & Co. sollten sich wieder davon lösen, den Torhüter ausgucken zu wollen. Die größten Erfolgsaussichten bieten sich dem Schützen, so haben Forscher der Universität Liverpool herausgefunden, wenn dieser folgende Punkte befolgt: Der Schütze sollte...

* vor dem Schuss (so unauffällig wie möglich) seinen Zielpunkt anvisieren
* den Torhüter ignorieren
* vier bis sechs Schritte Anlauf nehmen
* innerhalb von drei Sekunden nach Freigabe schießen
* hoch in die linke oder rechte obere Ecke schießen
* den Ball mit 90 bis 104 km/h auf das Tor bringen

Anschauungsmaterial liefert die Geschichte der Elfmeterschießen mit deutscher Beteiligung zu Genüge. 1996 ließen die deutschen Schützen im Halbfinale gegen England dem englischen Torhüter David Seaman durch unerreichbare Schüsse unter die Querlatte keine Chance. Zumindest in diesem Punkt können Thomas Müller und Mesut Özil von den Europameistern von 1996 noch lernen.

Ralf Amshove