20.06.2017 12:40 Uhr

Videobeweis: Haarspalterei oder Geduldsfrage?

Arturo Vidal (r.) beschwerte sich beim Schiedsrichter - trotz neuer Technik
Arturo Vidal (r.) beschwerte sich beim Schiedsrichter - trotz neuer Technik

Beim Confed Cup in Russland kommt der Videobeweis erstmals zum Einsatz. Fünfmal haben die FIFA-Schiedsrichter bereits mit der neuen Technologie in den ersten vier Spielen gearbeitet. Fünfmal standen Tore, Elfmeter-Entscheidungen und Rote Karten bei den beiden Video-Schiedsrichter und dem Assistenten im Fokus. Fünfmal lagen die Unparteiischen richtig.

Doch sorgt die Neuerung für mehr Gerechtigkeit oder für mehr Gesprächs- und Diskussionsbedarf? Zwei Redakteure, zwei Meinungen.

"Haarspalterei und Achterbahnfahrt statt Fußball"

"Es war offensichtlich und es lässt dich am Spiel zweifeln", polterte Bayerns Arturo Vidal nach der Viertelfinal-Niederlage gegen Real Madrid noch im April gegen Referee Viktor Kassai. Die Münchener fühlten sich nach zwei eklatanten Fehlentscheidungen betrogen. Vidal stürmte nach der Partie zum Ungar - nette Worte fielen sicherlich nicht. Hinterher waren sich alle einig: Der Videobeweis muss her.

Zwei Monate später hat sich nicht viel geändert - auf emotionaler Ebene. Diesmal war die geforderte Technik allerdings vorhanden. Denn der temperamentvolle Vidal, nun im Trikot seiner Landesauswahl, belagerte erneut den Schiedsrichter. Diesmal hatte der erfahrene Damir Skomina zunächst ein Tor der Chilenen im Spiel gegen Kamerun gegeben, dann nach der Kontrolle des Video-Schiedsrichters jedoch auf Abseits entschieden.

Vidals Unmut ist leicht zu verstehen - unabhängig davon, ob ein gerechtes Urteil gefällt wurde: Einerseits, weil es sich um eine Millimeter-Entscheidung handelte, bei der es die Schiris früher - frei nach dem gängigen Motto "Im Zweifel für den Angreifer" - bei der Tor-Entscheidung belassen hätten. Andererseits, weil die Spieler zwangsläufig eine emotionale Reise durchmachen. Nach dem ausgelassenen Jubel folgt nämlich prompt die kalte Dusche.

Zu intransparent erscheinen die Entscheidungen aus der Kabine für die Spieler auf dem Rasen. Auch für die Fans im Stadion sind die Videobeweis-Pausen nicht nachvollziehbar. "So gerecht die Entscheidungen sein mögen, so sehr haben sie einen emotionalen Einfluss auf die Spieler", resümierte auch Chiles Nationaltrainer Juan Antonio Pizzi hinterher. Diskussionen wird der Videobeweis deshalb nicht aus den Weg räumen. Vielmehr führt die neue Wunder-Technik zu Haarspalterei und einer Achterbahnfahrt. Es muss also hier und da noch geschliffen werden, bis das Spiel dank des Videobeweises für alle gerecht ist.

Gerrit Kleiböhmer

"Ein wenig mehr Geduld wäre angebracht"

Zugegeben - die ersten Spiele des Confed Cups haben gezeigt, dass die Abläufe zwischen Referee und Video-Schiedsrichter noch nicht perfekt abgestimmt sind. Damit war allerdings zu rechnen. Nicht umsonst hat sich die FIFA ein Turnier mit überschaubarem Prestige ausgesucht, um das neue System unter Wettkampfbedingungen zu testen. Für die Zukunft kann dieser Probelauf nur hilfreich sein.

Wer die FIFA ein wenig kennt, der weiß, dass der Weltverband sein milliardenschweres Aushängeschild - die Weltmeisterschaft - mit allen Mitteln vor Negativschlagzeilen schützen will. Skandalöse Fehlentscheidungen sind da ebenso wenig willkommen wie minutenlange Spielunterbrechungen. Ein Widerspruch? Mitnichten.

Vielmehr nutzen die Unparteiischen das Auslaufmodell Confed Cup derzeit, um ein Gefühl für den Nutzen der Technik zu bekommen. Fünf Überprüfungen in den ersten vier Partien lassen vermuten, dass Skomina und Co. mitten in der Experimentierphase stecken. Bei der WM-Endrunde im kommenden Jahr werden die Pausen seltener und kürzer sein - falls die FIFA am Videobeweis festhält.

Bis dahin ist vor allem eines gefragt: Geduld! Nach Jahren des Zeterns über elementare Schirifehler sollte den Referees nun auch genügend Zeit eingeräumt werden, um die neuen Abläufe zu verinnerlichen. In der Hitze des Gefechts mag das heißblütigen Kickern wie auch Fans zwar schwerfallen, doch die jüngsten Eindrücke sprechen eindeutig für den Nutzen der Neuerung. Denn alle fünf Unterbrechungen beim Confed Cup mündeten in richtigen Entscheidungen.

Bei aller Kritik am bisherigen Prozedere musste auch Chile-Star Vidal nach dem Sieg gegen Kamerun gestehen: "Wir müssen uns erst daran gewöhnen, aber am Ende wird es den Fußball verbessern".

Heiko Lütkehus