22.10.2013 13:20 Uhr

Kommentar: Zur Kritik an Kießling

Stefan Kießling (2.v.l.) weiß offenbar nicht, wie ihm geschieht: Seine Teamkollegen Sidney Sam, Emir Spahic und Roberto Hilbert (v.l.n.r.) feiern den Leverkusener Stürmer für sein Phantomtor in der Bundesliga gegen 1899 Hoffenheim (18.10.2013).
Stefan Kießling (2.v.l.) weiß offenbar nicht, wie ihm geschieht: Seine Teamkollegen Sidney Sam, Emir Spahic und Roberto Hilbert (v.l.n.r.) feiern den Leverkusener Stürmer für sein Phantomtor in der Bundesliga gegen 1899 Hoffenheim (18.10.2013).

Der Unterschied zwischen den Wörtern "anscheinend" und "scheinbar" ist nicht jedem bewusst, aber beileibe keine Haarspalterei für weltfremde Sprachwissenschaftler. Wie groß der Unterschied sein kann, wurde in Hoffenheim deutlich – und Stefan Kießling zum Verhängnis.

Zur Klärung: Während "anscheinend" die Annahme ausdrückt, dass etwas genau so ist, wie es zu sein scheint, ist etwas im Fall von "scheinbar" nur dem äußeren Eindruck nach, nicht aber tatsächlich so. Aus der Perspektive von Stefan Kießling musste es in der 70. Minute von Hoffenheim also zunächst heißen: Anscheinend flog der Ball am Tor vorbei.

Denn es kann angesichts der Bilder von den unmittelbaren Reaktionen nach seinem Kopfball davon ausgegangen werden, dass er annahm, dass der Ball am Tor vorbeigeflogen war. Nur fand sich der gleiche Ball einen Augenblick später aber eben doch im Netz wieder. Diesen Moment sollte man sich vergegenwärtigen, ehe man den Stab über dem Leverkusener Stürmer bricht.

Menschliche Reaktion: Widersprüche auflösen

Der Mensch neigt dazu, die Dinge von ihrem Ergebnis her zu bewerten und Widersprüche auflösen zu wollen - und das mithilfe der wahrscheinlichsten Annahme. Für unseren Phantom-Treffer bedeutet das: Der Ball liegt im Ergebnis im Tor. Das ist ein entscheidender Punkt und der maßgebliche Unterschied zu Thomas Helmers "Nicht-Tor" anno 1994.

Dass der Ball vorbeifliegt und doch im Tor landet, ist ein Widerspruch. Von Kießling die augenblickliche Annahme zu erwarten, dass sich in einem Bundesligastadion ein Loch im Netz an genau dieser Stelle dafür verantwortlich zeigen könnte, ist ersichtlich abwegig (das zeigt schon die Einmaligkeit dieses Ereignisses).

Wurde aus anscheinend scheinbar vorbei?

Was also dürfte Stefan Kießling nach seinem Kopfball passiert sein? Eine einfache Antwort könnte sein: Er ging davon aus, "anscheinend" durch "scheinbar" ersetzen zu müssen: Der Ball wäre dann für ihn nun nur scheinbar am Tor vorbeigeflogen. Das aber ist eine menschliche Reaktion, die jeder nachvollziehen können sollte, der schon einmal einer optischen Täuschung aufgesessen ist und feststellen musste, dass sich ein anderes Ergebnis eingestellt hat als die zuvor gemachte Wahrnehmung erwarten ließ.

Die auf diesen Moment folgende allgemeine Verunsicherung, in der alle Beteiligten ohne Zeitlupe und weitere Hilfsmittel allein auf ihre Wahrnehmung und Erinnerung angewiesen waren, nun zuvorderst Kießling allein deswegen anzulasten, weil er der Schütze war, ist unangebracht. Anscheinend, nicht scheinbar.

Kommentar: Lars Plantholt