06.08.2017 09:45 Uhr

Damals: Endlos-Finale ohne Meister

Von 1903 bis 1944 wurde die Viktoria-Trophäe an den Sieger übergeben.
Von 1903 bis 1944 wurde die Viktoria-Trophäe an den Sieger übergeben.

Seit 1903 werden Deutsche Meisterschaften ausgespielt – aber so kurios wie im Sommer 1922 zwischen dem Hamburger SV und dem Titelverteidiger 1. FC Nürnberg ging es nie wieder zu. Am Ende gab es keinen Sieger – oder doch?

Unglaubliche 189 Minuten sind am 18. Juni 1922 im Deutschen Stadion zu Berlin zwischen dem amtierenden Titelträger aus Nürnberg und den aufstrebenden Hamburgern gespielt, als der spätere DFB-Präsident und Schiedsrichter Peco Bauwens die Partie ohne einen Sieger beendet.

Die 30.000 Zuschauer hatten in der regulären Spielzeit ein packendes Duell mit je zwei Toren auf beiden Seiten gesehen. Hans Rave hatte den HSV in der 19. Minute in Führung gebracht, aber Heinrich Träg und Luitpold Popp drehten die Partie noch vor der Pause. Kurz vor ende der Partie rettet Hans Flohr die Hamburger verdient in die Verlängerung, die ohne weitere Tore bleibt.

Das Elfmeterschießen als Entscheidungshilfe gibt es noch nicht, also wird weitergespielt. Auch die zweite Verlängerung verstreicht ohne Treffer. Die Regeln sehen nun nach gespielten 140 Minuten vor, dass das nächste Tor die Partie entscheidet. Doch die beiden Gehäuse bleiben wie vernagelt, dafür bekommen die Sanitäter jede Menge zu tun. Die Statistiker zählen 23 verletzungsbedingte Unterbrechungen, 19 Mal müssen Spieler von der medizinischen Abteilung verletzt oder entkräftet vom Platz getragen und behandelt werden.

Kugler verliert mehrere Zähne

Der Appell des Schiedsrichters, der das Spiel eigens unterbricht, um die Akteure an den Fair-Play-Gedanken zu erinnern, ist vergebens. Nürnbergs Kugler verliert bei einer Faust-Attacke des HSV-Angreifers Tull Harder mehrere Zähne. Nach 165 Minuten trifft es auch den Schiedsrichter, so dass das Spiel kurz vor dem Abbruch steht. Bauwens sackt von Wadenkrämpfen geplagt auf dem Feld zusammen. Nach kurzer Pause geht es aber weiter. Nach mehr als drei Stunden wird die Partie abgebrochen, weil die einbrechende Dunkelheit kein Spiel mehr zulässt.

Sechs Wochen lässt der DFB beiden Seiten Zeit, damit sich die angeschlagenen Spieler erholen. Am 6. August des gleichen Jahres kommt es zur Neuauflage des Endspiels im Leipziger Probstheidaer Stadion. Auch wenn sich es sich die 50.000 Zuschauer zu Beginn kaum vorstellen können – diese Partie soll das erste Spiel zwischen den beiden Mannschaften in Spannung und Kuriosität noch toppen.

Für die Nürnberger steht das zweite Finale unter keinem guten Stern. Schon auf der Zugfahrt nach Hamburg knickt Verteidiger Grünerwald um und fällt aus. Bauwens, wie Wochen zuvor an der Pfeife, ermahnt mit Hinblick auf das brutale Hinspiel Hamburger und Nürnberger, sich in den Zweikämpfen zurückzunehmen – ohne Erfolg. Schon nach 18 Minuten muss er den Clubberer Böß wegen Nachtretens des Feldes verweisen. In der zweiten Halbzeit fallen durch Träg (Nürnberg) und Schneider (HSV) die beiden Tore des Spiels.

Nürnberg nur noch zu siebt

Nürnberg rettet sich mit Zwei-Mann-Unterzahl in die Verlängerung, denn in der 75. muss Anton Kugler verletzt vom Platz getragen werden. Auswechslungen kennt der Fußball Anfang des 20. Jahrhunderts noch nicht. Vor dem Wiederanpfiff geraten HSV-Verteidiger Rudi Agte und Nürnbergs Heinrich Träg verbal aneinander. Der Nürnberger droht seinem Konkurrenten, ihn im Laufe der Verlängerung vom Platz zu treten – und hält Wort. Allerdings ist es Agtes Verteidigerkollege Ali Beier, der zum Opfer von Trägs Rachephantasien wird. Nach der Tätlichkeit des FCN-Angreifers bleibt Bauwens nichts anderes übrig, als Träg in der 100. Minute vom Platz zu stellen. Elf Hamburgern stehen nun nur noch acht Nürnberger gegenüber.

Die Übriggebliebenen verteidigen aufopferungsvoll und retten sich in die Pause der Verlängerung. In den Minuten zuvor hatte sich der angeschlagene Luitpold Popp nur noch über den Platz geschleppt und bricht mit dem Pausenpfiff zusammen. In der Pause befragt Bauwens den Verletzten, ob er weiterspielen könne. Als dieser verneint, bricht der Schiedsrichter die Partie ab, da die Nürnberger nicht mehr über die Mindestanzahl an acht Spielern auf dem Platz verfügen. Die HSV-Anhänger und -Spieler sind empört, glauben sie doch, angesichts der deutlichen Überzahl auf dem Platz die Meisterschaft in der zweiten Halbzeit der Verlängerung locker einfahren zu können.

Hamburg "verzichtet" auf den Titel

Die bekommen sie wenige Tage später am Grünen Tisch zugesprochen. Der DFB erklärt den Hamburger Sportverein zum Meister, da die Nürnberger die nicht ausreichende Mannschaftsstärke durch zwei Platzverweise selbst verursacht hatten. Doch dabei bleibt es nicht. Der Titelverteidiger erhebt Einspruch gegen das DFB-Urteil, denn sie hatten im Regelwerk einen Regelverstoß des Schiedsrichters Bauwens entdeckt. Denn dieser hätte das Spiel nicht während der Pause abbrechen dürfen. Erst nach Wiederanpfiff wäre dies möglich gewesen. Nürnberg bekommt Recht, doch statt des erhofften dritten Endspiels entscheidet der DFB, dass es 1922 keinen Deutschen Meister gibt.

Doch damit immer noch nicht genug. Gegen den DFB-Entschluss wollen die Hamburger auf dem Bundestag des Verbandes vorgehen – mit Erfolg. Mehrheitlich geben die Verbandsvertreter den Hamburgern Recht, gleichzeitig macht aber der Süddeutsche Verband Druck und droht, bei einer Vergabe der Meisterschaft in die Hansestadt aus dem DFB auszutreten. So in die Enge getrieben, legt der DFB den Vertretern des Hamburger SV nahe, "freiwillig" auf den Titel zu verzichten, was dieser dann auch tut.

Offiziell bleibt es dann dabei: 1922 wird kein Deutscher Meister gekürt. Auf der Meisterschale, auf der alle Meister seit 1903 verewigt sind, werden für dieses Jahr sowohl der 1. FC Nürnberg als auch der Hamburger SV eingraviert. Ihre erste deutsche Meisterschaft holen die Hamburger dann ein Jahr später durch einen 3:0-Endspielerfolg über Union Oberschöneweide, dem heutige 1. FC Union Berlin.

Ralf Amshove