28.06.2018 13:20 Uhr

1950: Der tragischste Held aller Zeiten

US-Keeper Frank Borghi (l.) vereitelt eine Torchance des Engländers Tom Finney
US-Keeper Frank Borghi (l.) vereitelt eine Torchance des Engländers Tom Finney

Alle vier Jahre wird bei WM-Endrunden Geschichte geschrieben. Während der Weltmeisterschaft in Russland erinnert weltfussball an kuriose Ereignisse und unvergessene Momente. Heute: Der tragischste Held aller Zeiten.

Das 1:0 der USA gegen England bei der WM 1950 ist eine der größten Sensationen der Fußballgeschichte. Viel Glück brachte Siegtorschütze Joe Gaetjens sein legendärer Treffer jedoch nicht.

Dominant startete der haushohe Favorit aus dem Mutterland des Fußballs an diesem Abend des 29. Juni 1950 im Stadion von Belo Horizonte in die Partie: In der Anfangsphase bewahrten Pfosten, Latte und der bärenstarke Keeper Frank Borghi die USA ein ums andere Mal vor dem Rückstand.

Doch dann kamen die 38. Spielminute und der große Auftritt von Joe Gaetjens: Ein harter Schuss von Teamkollege Walter Bahr flog auf das englische Tor zu. Gaetjens hielt geschickt seinen Kopf in die Flugbahn und erwischte den Ball mit dem Ohr. Dieser ging unhaltbar für den englischen Torwart in die Maschen.

Zwar rannten die Engländer bis zum Ende der 90 Minuten an, konnten den Rückstand aber nicht mehr egalisieren. Zusammen mit 10.000 begeisterten Zuschauern feierte der Underdog seinen historischen Erfolg. Gaetjens war der große Held - auch wenn sein Ruhm nur von kurzer Dauer sein sollte.

Ein ungleiches Duell

Der damals 26-jährige Student stammte ursprünglich aus Haiti, hatte jedoch während seines Studiums in New York die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen. Die meisten seiner Nationalmannschaftskameraden hatten einen ähnlichen Hintergrund: Viele waren ursprünglich nicht aus den USA und erst recht keine Fußballprofis, sondern Lehrer, Postboten und Beamte. Torhüter-Ass Borghi war hauptberuflicher Leichenwagenfahrer.

Bei 1:500 standen die Quoten für einen Außenseitersieg gegen die großen Three Lions. Auch die Vorbereitung der US-Boys am Vorabend des großen Spiels schien wenig erfolgversprechend. "Wir waren in mindestens zwölf Bars", erinnerte sich Gaetjens später. Die Engländer waren sich ihrer Sache so sicher, dass sie sogar Superstar Stanley Matthews schonten.

Ungläubigkeit auf der Insel

Die englischen Medien waren von der Unschlagbarkeit der eigenen Mannschaft vollkommen überzeugt. So spekulierten sie bereits lange vor dem Spiel nur über die Höhe des Sieges. Bei der Ergebnisübermittlung nach der Sensations-Schlappe gegen den Fußballzwerg vermutete man einen Fehler des Telegraphen und druckte ein 10:1 für die eigene Mannschaft.

Dass die Engländer wenige Tage später durch eine weitere 0:1-Pleite gegen Spanien bereits nach der WM-Gruppenphase die Heimreise antreten mussten, war der nächste herbe Dämpfer für das britische Fußball-Selbstbewusstsein.

Rückkehr in die Heimat

Das US-Team schaffte den Einzug in die Endrunde trotz des Überraschungscoups durch Gaetjens' Treffer ebenfalls nicht. Den Torschützen zog es im Anschluss an das Turnier nach Europa. Nach einem glücklosen Gastspiel im französischen Profifußball kehrte er 1954 nach Haiti zurück.

Hier durfte er sich noch einmal als Fußballidol feiern lassen: Tausende erwarteten ihn am Flughafen und jubelten ihm zu. Seine Spielerkarriere musste er aufgrund einer Verletzung zwar bald beenden. Aber nun brachte er als Trainer jungen Leuten den Fußball näher. Sein Geld verdiente er mit dem Betrieb einiger Wäschereien.

In den Fängen des Regimes

Zehn Jahre nach seiner Rückkehr in die Heimat verschleppte die Miliz des haitianischen Diktators Francois "Papa Doc" Duvalier Gaetjens. Er selbst war politisch nicht aktiv, aber seine Brüder galten als Regimegegner. So stand die gesamte Familie auf der Abschussliste Duvaliers.

Der Ex-Fußballer landete im berüchtigten Foltergefängnis Fort Dimanche und galt lange als verschollen. Erst 1972, ein Jahr nach dem Tod des Dikators, bekamen Gaetjens' Frau und seine drei Kinder die offizielle Bestätigung: Der tragischste WM-Held aller Zeiten war in der Haft gestorben.

>> Joe Gaetjens im Profil

Tobias Knoop