24.06.2018 16:05 Uhr

WM-Historie: Das fatalste aller Eigentore

Andres Escobar (l.) und Eric Wynalda während des WM-Spiels zwischen Kolumbien und den USA im Juli 1994
Andres Escobar (l.) und Eric Wynalda während des WM-Spiels zwischen Kolumbien und den USA im Juli 1994

Alle vier Jahre wird bei WM-Endrunden Geschichte geschrieben. Während der Weltmeisterschaft in Russland erinnert weltfussball an kuriose Ereignisse und unvergessene Momente. Heute: Das fatale Eigentor.

Anfang der Neunziger Jahre herrscht Chaos in Kolumbien. Der mächtige Drogenbaron Pablo Escobar hat dem Staat den Krieg erklärt, fortan bestimmt Gewalt den Alltag in dem südamerikanischen Land.

Ablenkung verschafft der Bevölkerung in diesen Zeiten der Fußball. Hoffnungsträger ist dabei ausgerechnet die Nationalelf, die das Land in der Vergangenheit so oft enttäuscht hat. "Los Cafeteros", die Kaffeebauern, wie das Team von Trainer Francisco Maturana genannt wird, bringt den Fans das verloren geglaubte Gefühl von nationaler Zugehörigkeit zurück. "Wir spielten, um unseren nationalen Stolz zu verteidigen", wird Maturana Jahre später sagen.

Neben Kapitän Carlos Valderrama ist seit 1988 Andrés Escobar der Anführer des vielversprechenden Teams. Der Verteidiger, der nur zufällig so heißt wie der berüchtigte Drogenboss, wird wegen seines tadellosen Charakters "El Caballero del Fútbol" genannt, der Gentleman des Fußballs.

"Goldene Generation"sorgt für Euphorie

Nach dem knappen Achtelfinal-Aus bei der WM 1990 in Italien will es Kolumbien vier Jahre später in den USA besser machen. Die Qualifikation dafür gelingt spielerisch, auch ohne den verletzten Escobar.

Besonders die letzte Partie schürt große Euphorie in der Heimat. Die starken Argentinier, die wenige Monate zuvor die Copa América holten und besonders seit dem Comeback Diego Maradonas als große Favoriten für die Endrunde gelten, werden in Buenos Aires mit 5:0 gedemütigt. Selbst von den argentinischen Fans gibt es stehende Ovationen.

Die mit brillantem Offensivfußball glänzende "goldene Generation" um Valderrama, Freddy Rincón und Faustino Asprilla schreibt dabei Geschichte. Nie zuvor hatte Argentinien zuhause derart hoch verloren.

Der Sensationssieg sorgt nicht nur in der Heimat für eine gewaltige Erwartungshaltung. Es ist niemand geringeres als Pelé, der Kolumbien gar in den Stand des WM-Favoriten erhebt. Eine Einschätzung, der nicht wenige folgen. Kolumbiens Präsident César Gaviria bezeichnet die Cafeteros als "beste Mannschaft des Kontinents". Bei der WM wird Kolumbien der ganz große Wurf zugetraut.

Verpatzter Turnierstart und Todesdrohungen

Die Euphorie in der Bevölkerung ist riesig. Einmal mehr soll die Nationalelf als Ablenkung dienen von einem Alltag, der auch nach dem Tod Pablo Escobars im Dezember 1993 von Terror und Gewalt geprägt ist. Auch die noch immer mächtige Unterwelt Kolumbiens knüpft hohe Erwartungen an das Turnier, auf die Maturana-Elf werden immense Summen gesetzt. Der wiedergenesene Andrés Escobar versucht, die Erwartungen zu dämpfen. Vergeblich.

Der Druck, den die hohen Erwartungen erzeugen, wiegt schwer. Zum Auftakt unterliegt man Rumänien um Superstar Gheorghe Hagi mit 1:3 und steht dadurch bereits vor dem zweiten Gruppenspiel unter Zugzwang. Gegen den Gastgeber muss ein Sieg her, um das vorzeitige Aus zu verhindern.

Das fatale Eigentor

Die Pleite gegen Rumänien hat indes drastische Folgen. Aus der im Chaos versinkenden Heimat wird allen Spielern mit dem Tod gedroht, falls Mittelfeldakteur Gabriel Gómez auch im zweiten Gruppenspiel antrete. Die Spieler werden unmittelbar Zeuge der Drohungen, die auf den TV-Geräten des Mannschaftshotels übertragen werden.

Maturana beugt sich dem Druck, lässt Gómez gegen die USA draußen. Die Ereignisse im Vorfeld haben deutliche Spuren hinterlassen, die Kolumbianer wirken stark verunsichert.

In der 35. Minute bringt US-Angreifer Eric Wynalda eine Flanke vor das kolumbianische Tor. Escobar will den Ball klären – und lenkt ihn ins eigene Gehäuse. Es ist das einzige Eigentor in der Karriere des Abwehrspielers. Seine Elf erholt sich von diesem Schock nicht mehr, verliert und scheidet aus. "Das Leben endet dadurch nicht", sagt Escobar noch nach dem Spiel.

Mordanschlag in Medellín

"Mein neunjähriger Sohn sagte mir, dass sie Andrés dafür töten würden", berichtet Escobars Schwester Maria Ester von den Momenten nach dem Eigentor. Die dunkle Vorahnung wird sich nur acht Tage später bewahrheiten. Am 2. Juli 1994 treffen den kolumbianischen Nationalspieler in dessen Heimatstadt Medellín mehrere Kugeln tödlich. "Goooool", Tor, soll der Mörder dabei höhnisch gerufen haben – eine Anspielung auf Escobars fatales Missgeschick.

Der als Täter identifizierte Humberto Muñoz Castro hatte Kontakte zur Unterwelt, war Bodyguard und Fahrer von Drogenbossen. Escobars Bruder Santiago vermutet wie viele Kolumbianer, dass André sterben musste, weil dessen Fehler und das damit verbundene Ausscheiden aus dem Turnier viel Geld gekostet hat. Der Täter streitet es bis heute ab.

Kolumbien reagiert geschockt. In Medellín nehmen bei der Beerdigung Hunderttausende Abschied von Andrés Escobar, dem Caballero de Fútbol. Der kolumbianische Fußball, in Zeiten der Gewalt und des Chaos eine der letzten Hoffnungen der Nation, hat seine Unschuld im Juli 1994 endgültig verloren.

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Julian Bischoff