20.11.2016 19:17 Uhr

Der Fall Gabriel Barbosa: Flop oder Phönix?

Stammplatz auf der Bank: Gabriel Barbosa
Stammplatz auf der Bank: Gabriel Barbosa

Am Sonntag steigt es wieder, das größte Derby Italiens und eines der größten Fußballereignisse weltweit: Das Derby della Madonnina zu Mailand. Nachdem sich Milan in diesem Jahr anscheinend rehabilitiert hat und wieder zu alter Größe strebt, bleibt Inter auch nach einem Drittel der Saison weit hinter den Erwartungen zurück. Niemand repräsentiert die Krise dabei mehr als der Millionenflop: Gabriel Barbosa.

Eigentlich sollte alles anders werden in dieser Saison beim FC Internazionale. Nach einer zumindest akzeptablen Vorsaison mit Platz vier am Ende bliesen die Nerazzurri in diesem Sommer zum Großangriff auf Serienmeister Juventus. China-Riese Suning erwarb große Teile des Klubs und wollte den schlafenden Riesen wieder zum Leben erwecken.

Doch dann kam der Stein ins Rollen: Coach Roberto Mancini quittierte nach Unstimmigkeiten mit den Investoren seinen Dienst und wurde durch Hoffnungsträger Frank die Boer ersetzt. Ganz nach dem Motto „Make Inter great again“ schlugen die Chinesen beherzt auf den Transfermarkt zu.

Neymar? Ronaldo? Von wegen!

Neben Europameister Joao Mario stach dabei besonders eine Personalie heraus: Gabriel Barbosa, in seiner Heimat oft ehrfurchtsvoll „neuer Neymar“ betitelt, sollte das in der letzten Saison oft biedere Angriffsspiel der Nerazzurri mit brasilianischer Spielkunst auffrischen. Mehr noch als Neymar fiel bei der Präsentation des 19-jährigen in Mailand allerdings ein anderer schillernder Name.

Wenige Tage vor dessen 40. Geburtstag machte der Vergleich mit Klublegende Ronaldo die Runde. Barbosa, vom Erscheinungsbild her weitaus exzentrischer als „Il Gordo“ (der Dicke), wiegelte die Vergleiche jedoch ab: „Ich will nicht mit Ronaldo vergleichen werden, ich bin einfach Gabriel Barbosa, niemand sonst. Ich will mit Inter meine eigene Klubgeschichte schreiben und helfen, alle Wettbewerbe mit diesem großartigen Team zu gewinnen.“

Die Taktiktafel als größter Feind

Wenige Wochen später ist aus den rosaroten Träumen tristgraue Realität geworden. Frank de Boer, der Barbosa bei dessen Verpflichtung noch „eine Menge am Telefon erklärt“ hatte, zeigte sich schnell von den taktischen Defiziten des Brasilianers enttäuscht und verbannte den 29,5-Millionen-Einkauf auf die Bank. Bis heute hat der Hoffnungsträger für Inter erst 16 Minuten gegen Bologna auf dem Platz gestanden.

Das strenge taktische Korsett de Boers, das auf Dominanz und Ballbesitz ausgelegt war, jedoch wenig Räume für Überraschungsmomente und Entfaltung individueller Klasse ließ, sagte dem Edeltechniker zu keiner Zeit zu. Landsmann Miranda brachte es auf den Punkt: „Gabriel hat überragendes Talent und eine feine Technik, aber ihm fehlt noch das taktische Verständnis für den Fußball in Italien.“

Droht ein neuer Fall Coutinho?

Der Freigeist im Land der großen Taktiker. Gerade bei Inter, das in den 1960er Jahren den Catenaccio erfunden hatte, weiß man ein Lied von dieser Problematik zu singen. Eines der jüngsten Beispiele: Philippe Coutinho, der als 18-jähriger nach Mailand wechselte dort jedoch nach mehreren Leihen nie überzeugen konnte und schließlich für Peanuts nach Liverpool abgeschoben wurde. Dort entwickelte sich der Außenbahnspieler inzwischen zu den Besten seiner Zunft und überzeugt Woche für Woche in der Premier League oder als Führungsspieler in der Seleção.

À propos Seleção: Nach vielversprechendem Start beim fünfmaligen Weltmeister mitsamt Olympiasieg in Rio ist Gabriel Barbosa auch dort in Abseits geraten. Namensvetter Gabriel Jesùs, ab Januar Guardiola-Jünger bei ManCity, hat ihn mittlerweile aus dem Sturmzentrum verdrängt.

Pioli als Integrationshelfer

Trotz oder gerade weil Barbosa keine wirkliche Chance erhielt und die taktischen Anweisungen de Boers vor allem gegen schwächere Teams nach hinten losgingen, wurde der Niederländer nach nur 85 Tagen vor die Tür gesetzt. Nachfolger Stefano Pioli gilt im Gegensatz zum knurrigen Holländer eher als Streichler, der seine Stars an der langen Leine lässt und ihnen auch in schwierigen Zeiten die Treue hält. Auf diese Weise konnte bereits ein als Diva geltender Felipe Anderson bei Lazio aufblühen.

Selbigen Effekt erhoffen sich nun vor allem die neuen chinesischen Besitzer von Suning mit Gabriel Barbosa. Die Investoren sollen den Transfer schließlich Ende August gegen den Willen de Boers durchgedrückt haben.

Pioli hat also einen klaren Auftrag: Inter wieder in die Erfolgspur führen, möglichst mit Barbosa als Unterstützung für Sturmführer Mauro Icardi. „Die Champions League ist immer noch möglich, das ist unser Ziel. Und dafür brauchen wir auch Spieler von der Qualität Gabriel Barbosas“, so der neue Übungsleiter bei seiner Amtsübernahme.

Leihe als Starthilfe?

Inters Coach bescheinigt Barbosa bereits gute Trainingsleistungen, dennoch existiert bereits ein Plan B, sollte es der Außenstürmer, der in der Jugend übrigens bis zu seinem 16. Lebensjahr rund 600 Tore schoss, auch weiterhin keinen Fuß auf den Mailänder Rasen bringen: Empoli und Pescara sollen ihr Interesse an einer Leihe bereits bekundet haben Arsenals angebliches Nachfragen nach einer festen Verpflichtung soll bei Inter hingegen auf taube Ohren gestoßen sein.

Denn es gibt auch Gegenbeispiele zu Coutinho: Sturmbulle Adriano trumpfte bei Inter einst ebenso erst nach einer Leihe zu Parma auf wie Àlvaro Recoba nach seiner Leihe zu Venezia. Beides inzwischen Klublegenden – wie auch Ronaldo, dessen designierter Nachfolger möglicherweise schon dieses Wochenende seine ersten Sporen verdienen könnte. Ausgerechnet Erzrivale Milan wartet im San Siro, und Inter ist erstmals seit längerem wieder Außenseiter in einem Derby. Aber bekanntlich ist auch Phönix erst aus der Asche in all seiner Pracht entstiegen.

Johann Mai