05.07.2018 08:05 Uhr

WM-Frust & Wechseltheater: Bayerns Baustellen

Neues starkes Duo beim FC Bayern: Coach Niko Kovac und Sportdirektor Hasan Salihamidzic
Neues starkes Duo beim FC Bayern: Coach Niko Kovac und Sportdirektor Hasan Salihamidzic

Sechs Meisterschaften in Folge können schwer wiegen. Was für jeden anderen Klub der Fußball-Bundesliga paradiesisch wäre, ist für den FC Bayern München zur Belastung geworden.

Mangels Konkurrenz spaziert der Rekordmeister Jahr für Jahr zum Titel, das letzte Saisonviertel gleicht stets einem spielerischen Schaulaufen. Die erdrückende Dominanz auf nationaler Ebene hat strukturelle Probleme kaschieren können - bis jetzt.

Mit der durchaus riskanten Verpflichtung des ehemaligen FCB-Profis Niko Kovac als Nachfolger von Jupp Heynckes hat der Verein einen dringend notwendigen Umbruch eingeleitet.

Der Kroate verfolgt in München einen klaren Plan: "Ich arbeite gerne, gehe voran, lebe vieles vor. Ich erwarte aber auch, dass die anderen das mittragen."

Kein Zweifel - Kovac sprüht vor Tatendrang. Doch kann der Mann, der Eintracht Frankfurt zuletzt sensationell zum Pokalsieg geführt hat, mit seiner Malocherattitüde auch beim großen FC Bayern punkten?

Viel Eingewöhnungszeit wird dem 46-Jährigen nicht eingeräumt werden. Wo drückt der Schuh also am heftigsten? Vier Baustellen sind offenkundig.

1. Die Stammformation benötigt eine Verjüngungskur - der Kader sowieso!

Dass elf Profis des Münchner Luxus-Kaders über 30 sind oder noch in diesem Jahr 30 werden, ist eine Hypothek für Kovac. Er war bei seiner offiziellen Vorstellung deshalb auch froh über den 22 Jahre alten Serge Gnabry, der aufgrund seiner frechen Spielweise "den Unterschied ausmachen" könne.

Auch den 20-jährigen Renato Sanches, der bislang auf ganzer Linie enttäuschte und zuletzt an Swansea City ausgeliehen war, hat der Trainer noch nicht aufgegeben. "Er hat Fähigkeiten, die man in der Bundesliga nicht so oft sieht. Ich hoffe, dass er den Kampf annimmt und die Leistung bringt, die wir von ihm erwarten." Neuzugang Leon Goretzka (23) soll im Mittelfeld die Zukunft gehören.

Doch all die Youngster, zu denen auch Kingsley Coman, Niklas Süle und Corentin Tolisso zählen, benötigen Vertrauen und Spielzeit. Jupp Heynckes baute in den großen Spielen fast immer auf die alte Achse, die 2013 das Triple geholt hatte. Doch viele Helden von damals sind in die Jahre gekommen.

Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich Kovac bewegt, zumal er auf die Oldies Franck Ribéry und Arjen Robben (noch) angewiesen ist. Auf die Frage, ob er mit beiden schon einmal über die Rolle als Ersatzspieler gesprochen habe, antwortete Kovac bei seinem Amtsantritt diplomatisch: "Das sind zwei Weltklassespieler. Sie sind impulsiv. Es ist doch normal, dass Spieler enttäuscht sind, wenn sie nicht nominiert werden."

Der Coach muss Mut beweisen und allen teaminternen Widerständen zum Trotz eine Verjüngungskur einleiten. Nur so kann der Rekordmeister mittel- bis langfristig um die Champions-League-Trophäe mitspielen. Frei nach Baseball-Legende Don Quisenberry: "Die Zukunft ist wie die Gegenwart - nur etwas länger!"

2. WM-Frust und Formschwächen: Selbstvertrauen verzweifelt gesucht!

Zwölf Bayern-Akteure steigen aufgrund ihrer Teilnahme an der WM in Russland verspätet in die Vorbereitung ein. Mit Rückenwind stößt keiner zum Team.

Neben den acht DFB-Kickern, die beim peinlichen Vorrunden-Aus der deutschen Nationalmannschaft teils völlig versagten, schieben auch Robert Lewandowski (Polen), Thiago (Spanien) und Pechvogel James Rodríguez (Kolumbien) mächtig Frust.

Keine einfache Situation für Kovac, der die Spieler möglichst schnell aufbauen muss. Im Gegenzug erwartet er jedoch "absolute Leidenschaft und Ehrgeiz" von ihnen.

Dies ist auch ganz im Sinne von Präsident Uli Hoeneß, der nach den Enttäuschungen der vergangenen Saison bereits die Mentalitätsfrage gestellt hatte. "Wir brauchen den einen oder anderen Spieler, der in den wichtigen Spielen Höchstleistungen bringt - und nicht, wenn wir gegen die schwachen Gegner spielen", forderte der 66-Jährige.

Freilich plagt sich das eine oder andere Sorgenkind nicht erst seit der WM mit Formschwächen herum. Einstige Stützen wie Jérôme Boateng und Thomas Müller wirken seit Monaten gehemmt, lassen Leichtigkeit und Selbstvertrauen vermissen. Ein Sonderfall bleibt Renato Sanches, der nach zwei Horror-Jahren nun von Kovac aufgepäppelt werden soll. Eine Herkulesaufgabe.

3. Wechseltheater - zu viele Profis kokettieren mit einem Abschied!

Die Zeit der Lippenbekenntnisse ist vorbei! Zu viele Bayern-Stars haben in jüngerer Vergangenheit mit einem Abschied kokettiert.

Ob Torjäger Robert Lewandowski, der immer wieder bei Champions-League-Dauersieger Real Madrid gehandelt wird, Spielmacher Thiago, der bei seinem Ex-Klub FC Barcelona im Gespräch ist, oder Abwehr-Ass Jérôme Boateng, der angeblich nochmal ins Ausland wechseln möchte - zahlreiche Leistungsträger scheinen mit den Gedanken nicht mehr in München zu sein. Auch David Alaba und Arturo Vidal liebäugeln Gerüchten zufolge mit einer neuen Herausforderung.

Zwar werden die FCB-Bosse um Karl-Heinz Rummenigge nicht müde, mediale Spekulationen ins Reich der Fabeln und auf die Vertragslaufzeit ihrer Profis zu verweisen, doch Unruhe bleibt.

Niko Kovac muss nun in kürzester Zeit herausfinden, wer wirklich noch mit ganzem Herzen beim FC Bayern ist - und danach Konsequenzen ziehen.

4. Ballbesitz um jeden Preis? System und Taktik müssen flexibler werden!

Nein, einen Paradigmenwechsel strebt der neue Trainer nicht an. Natürlich wolle man den seit Louis van Gaal und unter Pep Guardiola perfektionierten Spielstil mit viel Ballbesitz "beibehalten", erläuterte Kovac bei seiner Präsentation.

Aber, so fügte er gleich an, "wollen wir das eine oder andere auch modifizieren. Wir wollen andere Systeme zur Verfügung haben, um auf den Gegner reagieren zu können".

Eine wichtige Erkenntnis, schließlich ist ständiger Ballbesitz beim FC Bayern längst zum Selbstzweck geworden. Auf Kellerkinder mag die dauerhafte Zirkulation des Spielgeräts hypnotisierend wirken, doch sobald ein Team mit Konzept und Courage dagegenhält, stoßen die Münchner an ihre Grenzen. Anders sind die schmerzhaften Niederlagen gegen den VfB Stuttgart (1:4) und Eintracht Frankfurt (1:3) am Saisonende nicht zu erklären.

Die WM habe bislang gezeigt, dass viel Ballbesitz nicht gleichzeitig viel Erfolg bedeuten würde, so Kovac: "Topmannschaften haben 80 Prozent Ballbesitz. Aber wenn sich der Gegner gut formiert, ist es schwierig. Individuelle Qualität ist wichtig, aber nicht so entscheidend."

Man müsse flexibel sein, "schnell umschalten", betonte der 46-Jährige, der bei Eintracht Frankfurt auch mal mit Dreierkette spielen ließ. Mit Mats Hummels, Jérôme Boateng und Niklas Süle stünden drei hochwertige Optionen für derartige Gedankenspiele bereit.

Zudem hat Bayerns ewiger Rivale Real Madrid in den letzten Jahren vorgemacht, wie schnelles und effektives Kontern trotz Favoritenrolle möglich ist. Mit sprint- und schussstarken Außenbahnspielern wie Kingsley Coman und Serge Gnabry sollte der Rekordmeister das passende Personal für überfallartige Gegenstöße haben - vor allem im Hinblick auf die Königsklasse ein bedeutender Schritt hin zu höherer taktischer Flexibilität. Herr Kovac, übernehmen sie!

Heiko Lütkehus