30.10.2018 10:42 Uhr

Damals: Als der Trainerjob seine Unschuld verlor

Herbert Widmayer in seinem letzten Trainingslager in Nürnberg
Herbert Widmayer in seinem letzten Trainingslager in Nürnberg

Der Stuhl von Leverkusen-Coach Heiko Herrlich wackelte bereits gewaltig, Tayfun Korkut musste beim VfB Stuttgart schon die Koffer packen und sein Nachfolger Markus Weinzierl sitzt angeblich ebenfalls schon nicht mehr fest im Sattel. Die Saison der Fußball-Bundesliga ist noch jung, doch mittlerweile ist es beinahe selbstverständlich, dass Übungsleiter nach einigen Niederlagen hinterfragt werden.

Ihren Ursprung fand diese Maßnahme am 30. Oktober 1963, als Herbert Widmayer als erster Trainer der Bundesligageschichte vorzeitig entlassen wurde.

Ganze zwei Monate und neun Spieltage hatte es gedauert, da war das Abenteuer Bundesliga für Widmayer schon wieder vorbei. Dabei galt er eigentlich als Legende beim 1. FC Nürnberg. 1961 hatte der Fußballlehrer den Verein zur Deutschen Meisterschaft geführt, ein Jahr später scheiterte man im Finale, konnte aber stattdessen den DFB-Pokal gewinnen.

Auch der Start in die neu gegründete Bundesliga gelang zunächst. Nach fünf Spieltagen stand man auf Rang drei. Doch dann folgte der Absturz.

Beim 1. FC Nürnberg herrschte eiskalte Stimmung

Vier Niederlagen später fanden sich die Glubberer auf dem drittletzten Rang wieder. Eine 0:5-Klatsche gegen Kaiserslautern ließ die Emotionen der Nürnberger Fans hochkochen. Es begann ein wahrer Spießrutenlauf auf Widmayer, dem man die Schuld an der sportlichen Misere gab.

"Sie sind ein Scheißtrainer – machen Sie, dass Sie fortkommen", hieß es in einem Drohbrief. Der Coach wurde auf offener Straße beschimpft und bespuckt.

Auch vor seiner Frau machten die erzürnten Nürnberger keinen halt. "Was? Fressen will die Sau auch noch?", wurde Anne Widmayer beim Metzger angepöbelt. Nachts klingelte das Telefon Sturm und schließlich wurde das Auto des Trainers demoliert.

"Wir können beinahe von einer Panikstimmung wie an der russischen Front sprechen", beschrieb Vereinspräsident Karl Müller die Szenen. "Aber wir werden die Sache schon meistern. Wir gehören doch nicht zu den blöden Leuten, die ihren Trainer während der Saison davonjagen."

1. FC Nürnberg macht Nägel mit Köpfen

Gehörten sie doch. Denn am Abend des 30. Oktober wurde Widmayer auf das Vereinsgelände des FCN einbestellt. "Wie ein Primaner saß er vor dem Direktionszimmer, ehe man geneigt war, ihn vorzulassen", erinnerte sich Verteidiger Ferdinand "Nandl" Wenauer an den denkwürdigen Abend.

Präsident Mayer legte dem Trainer nahe, wegen der angespannten Situation und aus Rücksicht auf seine Gesundheit Urlaub zu nehmen, und seine Tätigkeit beim Club niederzulegen.

Widmayer verstand den Hinweis und ging. Damit war der erste Trainerrauswurf der Bundesliga-Historie perfekt.

"Dieses Leben ist ein Scheißspiel"

Seinen Spielern, bei denen der damals 50-Jährige sehr beliebt war, ging die Entlassung nahe. "Uns ist das peinlich, aber wir können nichts dran ändern. Wir haben Achtung vor Ihnen und wir danken Ihnen mit Wehmut im Herzen", sagte Wenauer, der im Namen der Mannschaft eine Abschiedsrede hielt.

Auch Mannschaftskollege Heinz Strehl war erbost: "Was heute und hier geschehen ist, ist eine riesige Sauerei. Dieses Leben ist wirklich ein Scheißspiel!"

"Widmayer war wie eine Vaterfigur für uns", beschrieb Mittelfeldspieler Stefan Reisch gegenüber dem "kicker" den Stellenwert, den Widmayer für die Mannschaft hatte. "Er war ein hervorragender Redner, der uns immer wieder von seinen Erlebnissen als Kampfpilot im Zweiten Weltkrieg erzählt hat." Im Krieg war Widmayer zweimal abgeschossen worden und schließlich in britische Gefangenschaft geraten.

Fußball wird zum Beruf

Für Wenauer stellte Widmayers Entlassung einen Einschnitt dar. "Die Zeiten der Trainer-Spieler-Kumpanei waren endgültig vorbei", blickte er zurück. "Fußball war keine Nebenbeschäftigung mehr, sondern Hauptberuf. Die bezahlten Spieler waren fortan nicht mehr mitbestimmende Vereinsmitglieder, sondern weisungsgebundene Angestellte." Wenauer sollte Recht behalten. 

Nach der Absetzung bei den Franken arbeitete Widmayer zunächst bei Hessen Kassel, und war 1974 Mitglied in Helmut Schöns Weltmeister-Trainerstab.

Als erster Bundesliga-Trainer entlassen worden zu sein, blieb aber ein für immer prägendes Ereignis für Widmayer, der 1998 im Alter von 85 Jahren verstarb. "Ich bin dreimal in meinem Leben abgeschossen worden", sagte er über seine Zeit beim Club. "Zweimal im Krieg und einmal in Nürnberg."

Sebastian Ernst