25.04.2019 11:43 Uhr

Titz: "Ansatz von Werder gefällt mir sehr gut"

Christian Titz arbeitete bis Oktober 2018 beim HSV
Christian Titz arbeitete bis Oktober 2018 beim HSV

Christian Titz übernahm beim Hamburger SV vor knapp einem Jahr den Cheftrainerposten, konnte den ersten Abstieg der Vereinsgeschichte trotz vier Siegen im Saisonendspurt aber nicht mehr abwenden.

Nach dem zehnten Spieltag der laufenden Saison wurde der 48-Jährige freigestellt. Der HSV lag damals nach sechs Zu-Null-Spielen auf Rang fünf, zwei Punkte hinter der Tabellenspitze. Titz arbeitet seitdem als Vortragsredner, Individualcoach und TV-Experte.

Im großen weltfussball.de-Interview spricht der Fußball-Lehrer exklusiv über seine Zeit beim HSV, das Titelrennen in der Bundesliga zwischen FC Bayern und BVB und seine Pläne für die Zukunft.

Herr Titz, seit Oktober des letzten Jahres arbeiten Sie nicht mehr als Trainer. Wie intensiv verfolgen Sie derzeit die Geschehnisse in der ersten und zweiten Liga?

Ich schaue die Bundesliga natürlich regelmäßig und verfolge sie intensiv im TV, aber auch andere Ligen. Aber ich besuche auch Live-Spiele. So habe ich mir neben den deutschen Ligen auch einen Überblick in den Niederlanden, Dänemark, Schweiz oder Österreich verschafft.

Gucken Sie die Spiele dann eher aus neutraler Zuschauersicht oder eher aus dem spieltaktischen Blickwinkel eines Trainers?

Das ist schon seit längerem vorbei, dass ich mir ein Spiel als Fan anschauen könnte. Man muss als Trainer die Emotionalität herausnehmen, um die Dinge besser bewerten zu können. In welcher taktischen Anordnung spielen die Mannschaften? Was sind die Stärken und Schwächen auf einzelnen Positionen? Was haben die Trainer für Ideen und Varianten? Das sind die Fragen, die mich während des Zuschauens beschäftigen. Wenn Sie sich diesen Blick einmal angelegt haben, können sie diesen nicht mehr oder nur sehr schwer ablegen.

Welche Mannschaften in der Bundesliga sehen Sie im Moment besonders gerne aus der Sichtweise eines Trainers?

Die Bundesliga ist insgesamt sehr interessant, weil sie sehr facettenreich mit vielen unterschiedlichen Trainerpersönlichkeiten ist. Mir gefällt die Art und Weise sehr, wie Hoffenheim im Moment fußballspielt, weil sie sehr variabel in den einzelnen Spielen sind. Sie haben einen richtig guten Mix aus Ballbesitzfußball, Umschaltspiel und Pressing. Auch der Ansatz von Werder Bremen gefällt mir sehr gut. Die Bremer haben sich in den letzten Jahren toll entwickelt, steckten vor gar nicht allzu langer Zeit ja noch im Abstiegskampf. Mit Kontinuität haben sie es in Bremen geschafft, dass die Mannschaft eine Spielidee entwickelt hat, mit der sie mit dem Ball das Spiel eröffnen und ebenfalls sehr variabel sind.
Wie es Eintracht Frankfurt in dieser Saison spielt, ist ebenfalls bemerkenswert. Mit welcher taktischen Disziplin, mit welcher Wucht sie agieren, dabei sehr gut switchen zwischen eigener Dominanz und stabiler Defensive – das machen sie schon richtig gut. Wie bei der Eintracht der Funke zwischen Fans und Mannschaft überspringt, lässt sich ebenfalls immer gut beobachten. Ich habe selbst mit meiner Mannschaft in diesem Stadion gestanden und weiß, wie brutal laut es dort ist und wie das ein Team tragen kann.

Sehen Sie in den einzelnen Spielbeobachtungen auch direkt Ansatzpunkte, bei denen Sie die jeweiligen Mannschaften verbessern könnten?

Nein, so denke ich da nicht. Ich gehe mit dem Ansatz an die Begegnungen heran, dass ich eine eigene Spielidee habe und ein eigenständiger Trainer bin, der offen für neue Ansätze ist. Fußball ist für mich aus taktischer Sicht wie ein Frage- und Antwortspiel, in dem es immer darum geht: Welche Ideen hat eine Mannschaft, welche Möglichkeiten hat der Gegner, darauf zu reagieren? Genau das ist für mich das Interessante in meinen Beobachtungen. Zu sehen, was sich die Teams einfallen lassen und wie der Gegner reagiert. Und dann ist es nun mal so, dass es in der Bundesliga Spieler mit einer Qualität gibt, die Spiele entscheidet.

Ganz oben in der Tabelle bekommen wir dank Borussia Dortmund in diesem Jahr endlich wieder ein spannendes Meisterrennen geboten. Wie bewerten Sie die Situation vier Spieltage vor Schluss?

Borussia Dortmund hat die Mannschaft auf einigen Positionen verändert und junge Spieler eingebaut. Sie machen es richtig gut, auch nach Rückschlägen in den nächsten Spielen wieder stabil zu sein, weil sie ihrer Spielidee vertrauen. Der BVB hat eine Mentalität entwickelt, 50:50-Spiele auf seine Seite zu holen, was bei der engen Konstellation ungeheuer wichtig ist. In der Offensive haben sie mit Reus, Sancho, Götze, Guerreiro und Alcácer richtig gute Spieler, aber das alleine macht es nicht aus. Der Defensivbereich ist zwar schon deutlich kritisiert worden. Trotzdem finde ich, dass sie insgesamt kompakt spielen und dem Gegner nur gewisse Räume bieten.

Der FC Bayern hat an den letzten Wochenenden mit RB Leipzig und Eintracht Frankfurt noch zwei richtig schwere Aufgaben zu lösen. Stolpern die Münchner noch auf dem Weg zum siebten Titel in Folge?

Sowohl der FC Bayern als auch der BVB spielen eine stabile Saison, haben beide im Schnitt deutlich über zwei Punkte pro Spiel geholt. Gerade Bayern München ist in der Rückrunde richtig marschiert. Die waren neun Punkte hinten dran. Mit welchem Selbstverständnis sie trotzdem ausgegeben haben, dass sie Meister werden wollen, ist schon bemerkenswert.

Wenn Sie sich die Tabelle und die Konstellationen anschauen, spricht eigentlich alles für Bayern München, weil sie einfach sehr stabil und gefestigt sind und einen sehr kontrollierenden Fußball spielen. Ihre individuelle Klasse ermöglicht es ihnen, immer Tore zu erzielen. Aber: Die Liga hat gezeigt, dass alles möglich ist. Gegen Leipzig oder Frankfurt kannst du natürlich auch Punkte lassen. Es ist ja auch schön für uns, dass die Liga wieder so spannend ist. Nicht zu vergessen ist das Derby am Wochenende der Dortmunder gegen Schalke 04, das immer eine besondere Spielaufgabe ist. Eine Prognose zu wagen, wie es in diesem Jahr ausgeht, ist wirklich schwierig. Wenn der BVB bis zum 33. Spieltag diese Ausgangsposition hält, kann am Ende durchaus viel möglich sein.

Im Tabellenkeller wird es ebenfalls noch einmal richtig spannend, der VfB Stuttgart hat nur noch drei Punkte Vorsprung auf den Club aus Nürnberg. Nach dem 0:6-Debakel gegen Augsburg hat Stuttgart noch einmal die Notbremse gezogen und den Trainer gewechselt. Wie kann der Bundesliga-Neuling Nico Willig jetzt überhaupt noch die Wende beim VfB herbeiführen?

Es ist eine wirklich schwierige Aufgabe. Nico Willig beweist Mut, diese Herausforderung jetzt anzunehmen. In so einer Situation kann man viel gewinnen, aber auch viel verlieren. Im Abstiegskampf geht der Fußball richtig an die Psyche. Da kommt die Mannschaft durch, die es schafft, ihre PS auf den Platz zu bringen. Das kannst du nicht immer zu einhundert Prozent steuern. Erst wenn das Spiel angepfiffen ist, beantwortet sich die Frage, ob die Spieler in genau diesem Moment ihre Leistung abrufen können. Nur weil sie Profis sind heißt das lange nicht, dass sie auch im Abstiegskampf so stabil sind, diesem Druck standzuhalten. Das ist auch keine leichte Aufgabe. Selbstverständlich hat der VfB Stuttgart eine Mannschaft, die die Qualität besitzt, die Bundesliga zu halten.

Der zweite große Klub, der ebenfalls noch um den Klassenerhalt zittert, ist der FC Schalke 04. Sind die Knappen ein Paradebeispiel dafür, wie schlecht es laufen kann, wenn der Kopf nicht mehr mitspielt und das Selbstvertrauen weg ist?

Ja, das glaube ich in der Tat. Schalke 04 ist ja auch nicht die erste Mannschaft, der so etwas passiert. Wenn sich die schlechten Erlebnisse zu einem frühen Zeitpunkt der Saison bereits häufen, kannst du so etwas wie einen Negativlauf bekommen. Ich weiß, dass viele Leute das nicht gerne hören, aber so etwas gibt es im Fußball! Es ist dann unglaublich schwierig, da wieder herauszukommen. Das zeigen auch momentan die Ergebnisse. Trotzdem glaube ich nicht, dass Schalke 04 auf einem der letzten drei Plätze landen wird. Schalke wird in den verbleibenden Spielen noch punkten, sodass sie am rettenden Ufer bleiben.

Vielleicht ja sogar schon am Samstag im Derby beim BVB …

In diesem Spiel ist natürlich unheimlich viel drin. Da kannst du eine Saison mit einem ganz wichtigen Sieg auch noch einmal retten. Jeder Spieler ist bis in die Haarspitzen motiviert, weil er genau weiß, worum es geht. Dem Gegner geht es natürlich nicht anders. In solchen außergewöhnlichen Spielsituationen passieren dann nun mal unvorhersehbare Dinge, an die vorher gar nicht geglaubt wurde. Ich bin mir sicher, dass gerade in diesem Spiel alles drin ist. Schalke ist in der Lage, eine richtig gute Partie hinzulegen und für eine Überraschung zu sorgen. Dortmund hat natürlich auch das Potenzial, mit einem Sieg oben dran zu bleiben. Die Konstellation ist hervorragend, dass wir am Samstag ein spannendes Spiel sehen werden!

>> zu Teil II des großen weltfussball.de-Interviews: Christian Titz über die Konstellation in der 2. Bundesliga, seine Spielidee beim HSV und Ambitionen, wieder als Cheftrainer zu arbeiten