15.05.2020 08:55 Uhr

"Fußball ohne Fans ist nicht das, was wir brauchen"

Spielte bei BVB und FC Schalke 04: Ingo Anderbrügge
Spielte bei BVB und FC Schalke 04: Ingo Anderbrügge

Seine Karriere startete Ingo Anderbrügge bei Borussia Dortmund, ehe er sich später ausgerechnet mit Erzrivale FC Schalke 04 als "Eurofighter" einen Namen machte. Inzwischen ist der Ex-Profi seit 23 Jahren mit seiner "Fußballfabrik" und den "Aktivwelten" in ganz Deutschland unterwegs.

Vor dem 180. Revier-Derby zwischen dem BVB und den Königsblauen spricht Anderbrügge im exklusiven sport.de-Interview über mögliche Gefahren des Bundesliga-Restarts und die Favoritenrolle im Geister-Derby. Außerdem übt der 56-Jährige Kritik an Marco Reus und Mario Götze.

Herr Anderbrügge, die Bundesliga gilt mit dem Neustart als Vorreiter in Europa. Halten Sie die Entscheidung, die Saison jetzt fortzusetzen, für richtig?

Ingo Anderbrügge: Mit Blick auf die Zahlen der Krankenhäuser sowie Gesundheitsämter, die man aus den Medien erfährt, halte ich den Neustart für richtig. Die Virologen werden das vermutlich anders sehen und hätten lieber gewartet, bis alles auf Null ist. Aus meiner Sicht sind die Gefahren hinsichtlich eines Neustarts überschaubar – nicht zuletzt, weil die DFL viel dafür getan hat, dieses Konzept auf die Beine zu stellen. Der Bevölkerung, die mindestens zu 50 Prozent fußballaffin ist, wird die Bundesliga gut tun. Der Mensch braucht Visionen und Aufbruchstimmung.

Kann diese Aufbruchstimmung trotz der Geisterspiele wirklich aufkommen – auch mit Blick auf das Revier-Derby BVB gegen Schalke?

Es ist natürlich noch immer nicht so, wie wir uns das alle vorstellen. Fußball – und somit auch ein Revier-Derby – ohne Fans ist grundsätzlich natürlich nicht das, was wir brauchen. Wir können es aber nicht beeinflussen und müssen die Entscheidung akzeptieren. Immerhin sieht man Licht am Ende des Tunnels. Und das sollten wir doch positiv sehen – mit Respekt, Disziplin und Würde.

Sie waren insgesamt 15 Jahre lang für den BVB (1984-1988) und Schalke 04 (1988-1999) aktiv. An welche Revier-Derbys erinnern Sie sich gerne zurück?

Da fallen mir spontan vor allem zwei Spiele ein – und beide fanden im Jahr 1997 statt. Zum einen das 2:2, in dem Jens Lehmann mit einem Kopfballtor in der 90. Minute den Ausgleich für Schalke erzielt hat. Zum anderen mein entscheidendes Tor zum 1:0-Sieg im Parkstadion, auf das ich heute noch häufig angesprochen werde. Aus der Zeit nach meiner Karriere bleibt sicher das 4:4 (Saison 2017/18; Anm. d. Red.) in Erinnerung – ein spektakuläres Derby, das ich selbst im Stadion miterleben durfte.

Der Trend in den Revier-Derbys spricht eher für Schalke. Der BVB konnte vor der Corona-Pause nur eines der vergangenen acht Pflichtspiele gewinnen. Macht das Hoffnung, dass die Knappen ihren Negativ-Lauf ausgerechnet gegen den Erzrivalen beenden können?

Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die Tabelle und die Leistung aus den vergangenen Spielen nicht unbedingt viel mit dem Revier-Derby zu tun haben müssen. Es ist eben eine besondere Partie, in der oft der Funke von den Rängen auf die Spieler überspringt. David Wagner hat als Profi selbst Derby-Erfahrung sammeln können und wird die Mannschaft schon einschwören.

Wie damals Huub Stevens zu Ihrer Zeit?

Zumindest waren die Rollen auch damals auf dem Papier klar verteilt. Huub Stevens hat es in einer Phase, in der Schalke gegen den Abstieg gekämpft hat, verstanden, im richtigen Moment Beton anzumischen. Daran verzweifelten einige Mannschaften, auch hin und wieder der BVB.

Kann Schalke den BVB am Samstag ärgern?

Ich wünsche den Schalkern, dass sie das Derby nutzen, um oben dran zu bleiben. Sie können auf eine Top-Hinrunde zurückblicken, die vielleicht besser verlief als gedacht. Aktuell relativiert sich dieser Eindruck ein bisschen. Ich würde mich freuen, sollte es David (Wagner; Anm. d. Red.) gelingen, die Mannschaft noch in die Europa League zu führen. Ich mag ihn persönlich sehr, wir haben gemeinsam den Fußballlehrerschein gemacht.

Ihren Worten ist zu entnehmen, dass Ihr Herz eher eher blau-weiß und weniger schwarz-gelb schlägt, richtig?

Ich würde über meine Dortmunder Zeit niemals ein schlechtes Wort verlieren. Ich habe meinen ersten Profivertrag beim BVB unterschrieben und bin dort heute noch im Stadion ein gern gesehener Gast. Dennoch hat mich die Zeit auf Schalke extrem geprägt. Wir sind von der zweiten in die erste Liga aufgestiegen und ich war neben Andreas Möller und Jens Lehmann einer von nur drei Spielern dieser Mannschaft, die neun Jahre später den UEFA-Pokal in die Höhe recken durften. Ich bin heute noch als Schalke-Repräsentant unterwegs – und natürlich schlägt mein Herz blau-weiß.

Ingo Anderbrügge (M.) spielte in seiner Karriere mehrfach gegen den BVB
Ingo Anderbrügge (M.) spielte in seiner Karriere mehrfach gegen den BVB

Heute vermissen viele Fans echte Typen im Fußball. Sie gehörten dieser Kategorie immer an. Von daher nehme ich an, dass Ihr Herz auch für den BVB-Youngster Erling Haaland schlägt …

Absolut. Ich halte heute unter anderem Vorträge zum Thema Motivation im Sport und vermittele den – vor allem jungen – Menschen immer wieder: Sucht euch einen Job, auf den ihr jeden Tag Lust habt. Erling Haaland ist ein Beispiel für jemanden, dem sein Beruf unheimlich viel Freude bereitet. Seine Körpersprache spricht Bände. Da kann sich der eine oder andere noch etwas abgucken. Wo wir gerade beim BVB sind: Marco Reus und Mario Götze sind super Fußballer. Aber sie geben mir seit einer gewissen Zeit nicht mehr das Gefühl, dass sie richtig brennen – um nur zwei Beispiele zu nennen. Teilweise singen die Führungsspieler des DFB-Teams die Nationalhymne nicht mit. Diese Spieler können meiner Meinung nach gleich zu Hause bleiben. Sie alle sind in der privilegierten Situation, dass sie ihr Hobby zum Beruf machen durften. Wenn sie dabei nicht lachen, wann lachen sie denn dann? Haaland sprüht vor Begeisterung. Von ihm kaufen sich die Fans ein Trikot.

Vor der Corona-Pause war die Torwart-Frage auf Schalke ein großes Thema. Wie bewerten Sie die Debatte um Markus Schubert und Alexander Nübel?

Aus Trainer-Sicht bin ich absolut bei Wagner. Hätte sich Schubert im Winter nicht verletzt, wäre er vermutlich ohnehin die Nummer eins geblieben. Er war in dieser Phase gut in Form und es gab keinen Grund, einen Torwart rauszunehmen, mit dem man langfristig plant. Aufgrund Schuberts Verletzung kehrte Nübel vorerst zurück ins Tor. Doch er patzte in Köln und wirkte auch bereits zuvor nicht so stabil wie gewohnt. Es war ihm anzumerken, dass ihm die Reaktion der Fans auf seinen bevorstehenden Wechsel zum FC Bayern naheging. Eine menschliche Reaktion!

Hätte man ihn in dieser Phase nicht stärken müssen?

Würde man mit Nübel weiter planen, hätte es sich gelohnt, ihn jetzt stark zu machen und ihn durch diese schwierige Phase durchzuboxen. Aus Sicht von Schalke würde es allerdings in dem Wissen, dass er im Sommer den Verein verlässt, keinen Sinn machen, Nübel zu stärken. Es ist dann die Aufgabe des FC Bayern, dem Torwart zu helfen. Es ist nur konsequent und zukunftsorientiert, dass der Trainer Schubert das Vertrauen schenkt.

Das Gespräch führte Dennis Ebbecke

Weitere Informationen zu Ingo Anderbrügges Fußballfabrik gibt es unter www.fussballfabrik.com.