21.05.2020 12:11 Uhr

Notlösungen oder mehr? Der zweite Anzug des BVB im Check

Haben die BVB-Ersatzleute ihre Chance genutzt?
Haben die BVB-Ersatzleute ihre Chance genutzt?

Dass das Prunkstück Offensive einen Ausfall von Kapitän Marco Reus kompensieren kann, musste Borussia Dortmund schon zur Genüge unter Beweis stellen. Dass der BVB gegen den FC Schalke 04 allerdings obendrein ohne sein Mittelfeld-Herzstück (Axel Witsel und Emre Can) und eine Stammkraft der Dreierkette (Dan-Axel Zagadou) auskommen musste, bereitete Sorgenfalten.

Nach 90 Minuten war S04 letztlich mit 4:0 abgefertigt, der höchste Derbysieg seit 54 Jahren perfekt. Wir haben einen Blick auf die vermeintlichen Verlegenheitslösungen von Coach Lucien Favre geworfen und gecheckt, wie gut der zweite Anzug wirklich sitzt.

Mahmoud Dahoud - Starke Vorstellung mit fettem Manko

Der Deutsch-Syrer, der seit seinem Wechsel zum BVB im Sommer 2017 zu selten die Erwartungen erfüllen konnte, rückte für den von muskulären Problemen geplagten Leitwolf Axel Witsel in die Startelf, gab den offensiveren Part auf der Doppel-Sechs und erntete für seine Vorstellung reichlich Lob. 

Kein Wunder, mehrfach hallten überraschend klare Ansagen des eher zurückhaltenden 24-Jährigen an seine Nebenleute durch die gespenstische Stille des Signal Iduna Parks. Zudem legte Dahoud mit 11,14 Kilometern die weiteste Strecke aller Dortmunder zurück und brachte 55 seiner 62 gespielten Pässe an den Mann (89 Prozent).

Über ein auffallend fettes Manko können diese Statistiken allerdings nicht hinwegtäuschen: Der ehemalige U21-Nationalspieler des DFB gewann gerade einmal magere 23 Prozent seiner Zweikämpfe. Ausreichend gegen einen blutleeren FC Schalke, zu wenig im Titelkampf der Bundesliga.

Dahoud, der zu gemeinsamen Gladbacher Zeiten als Lieblingsschüler Favres galt, hat seine Aussichten auf weitere Einsätze mit seinem ersten Saisoneinsatz über mehr als 70 Minuten dennoch deutlich in die Höhe geschraubt. Um mehr als einer B-Lösung zu sein, muss Dahoud seinen Auftritt allerdings bestätigen und körperlich präsenter werden. 

Thomas Delaney - "Hervorragender" Kaltstart nach ewiger Auszeit

Er kam, sah, siegte und war plötzlich weg vom Fenster - so lassen sich die knapp zwei Jahre von Thomas Delaney im BVB-Dress zusammenfassen. Als der Däne 2018 zur Borussia stieß, war er auf Anhieb Stammkraft im zentralen Mittelfeld, 2019/20 rückte der Nationalspieler dann zunehmend ins zweite Glied. Verletzungsprobleme und die Verpflichtung von Emre Can im Januar degradierten den Nationalspieler letztlich zur Nebenrolle. 

Gegen Schalke gelang Delaney dann jedoch ein tadelloser Kaltstart. Beinahe sieben Monate nach seinem letzten Pflichtspiel für die Dortmunder spülten körperliche Probleme von Can den 28-Jährigen in die Startformation - und Delaney lieferte. 

Dem Nordeuropäer, dessen Luft für 68 Minuten ausreichte, unterliefen lediglich vier Fehlpässe (91 Prozent seiner Zuspiele fanden ihr Ziel), beinahe neun Kilometer Laufdistanz und solide 44 Prozent gewonnene direkte Duelle können sich ebenfalls sehen lassen. BVB-Lizenzbereichsleiter Sebastian Kehl bescheinigte Delaney zu Recht ein "hervorragendes Spiel".

Delaneys Problem dürfte allerdings sein, dass er sich an Emre Can messen lassen muss. Nicht einfach, überzeugt der deutsche Nationalspieler im Borussen-Dress bislang auf ganzer Linie. 

Manuel Akanji - Zurück an der Tafel, aber ...

Obwohl nicht immer fehlerfrei, setzte Favre bis zum 21. Spieltag auf seinen Schweizer Landsmann. Nach der 3:4-Niederlage bei Bayer Leverkusen verlor der 24-Jährige seinen Stammplatz allerdings an Dan-Axel Zagadou. Nachdem die Spielzeit für den jungen Franzosen infolge eines Außenbandanrisses vorzeitig beendet ist, rücken Akanjis Dienste jedoch wieder in den Fokus.

Dennoch spricht derzeit wenig dafür, dass Akanji beim BVB eine Ära prägen wird. Was Zweikampfwerte und Passquoten angeht, steht der Eidgenosse seinem ärgsten Konkurrenten Zagadou zwar kaum nach, in Sachen körperlicher Präsenz und Dynamik kann Akanji, seiner unbestrittenen Schnelligkeit zum Trotz, dem Youngster aber nicht das Wasser reichen. Ein Manko, das besonders schwer wiegt, da Abwehr-Platzhirsch Mats Hummels ebenfalls eher durch seine Abgeklärtheit und sein gutes Stellungsspiel glänzt.

Apropos Hummels: Medienberichte legen immer wieder nah, dass der einflussreiche Routinier und Akanji nicht das beste Verhältnis pflegen. Als Hummels im Sommer in den Mannschaftsrat berufen wurde, legte Akanji sein Amt nieder. Gegenüber der "Sport Bild" verneinte Akanji zwar "persönliche Probleme", verpasste es jedoch, die Gerüchte aus dem Weg zu räumen. Auch Coach Favre soll nicht mehr der größte Fan des Verteidigers sein, an dem er lange auch gegen den Widerstand der Fans festhielt. 

Nach dem Sieg gegen Schalke lässt sich dennoch konstatieren: Akanji ist zurück an der Tafel, bleibt die Frage, ob sich das Tischtuch wieder kitten lässt.

Leonardo Balerdi: Der überraschende Gewinner

Obwohl er gegen Schalke trotz der Ausfälle nicht in der Startformation auftauchte, könnte Leonardo Balerdi der Gewinner des Derbys werden. Der 21-jährige Argentinier, den sich der BVB im Januar 2019 immerhin satte 15,5 Millionen Euro kosten ließ, war gegen die Knappen Favres erste Wechseloption. Balerdi durfte 22 Minuten mitwirken und verdoppelte damit kurzerhand seine bisherigen Pflichtspielminuten für die Dortmunder. 

Die Partie war zum Zeitpunkt seiner Einwechslung schon entschieden, Balerdi verlor allerdings keinen Zweikampf und brachte 86 Prozent seiner Zuspiele an den Mann. Nachdem der Nationalspieler anfangs große Probleme mit dem Tempo des europäischen Fußballs hatte, scheint er endlich angekommen zu sein.

Balerdis großer Vorteil: Er fühlt sich sowohl links als auch zentral in der Dreierkette sowie im defensiven Mittelfeld wohl. Ein echtes Pfund, wenn man um Favres Faible für vielseitige Spieler weiß.

Marc Affeldt