25.05.2020 10:43 Uhr

Warum sich Gladbach zu Unrecht über den Elfmeter aufregte

Nach dem Elfmeterpfiff von Sören Storks gab es einiges zu diskutieren
Nach dem Elfmeterpfiff von Sören Storks gab es einiges zu diskutieren

Auch am zweiten Geisterspieltag hatten die Schiedsrichter überwiegend ihre Ruhe. In Mönchengladbach allerdings kam Streit um einen Elfmeter auf, der eigentlich unstrittig war – wenn es da nicht ein ungeschriebenes Gesetz gäbe.

Dass Spiele ohne Zuschauer auch für die Schiedsrichter etwas völlig anderes sind, als in gut gefüllten oder gar ausverkauften Stadien zu pfeifen, hat Deniz Aytekin am Samstag im "Aktuellen Sportstudio" des "ZDF" deutlich gemacht. "Mir hat dieses Gepusht-Werden komplett gefehlt", sagte der FIFA-Referee, der vor Wochenfrist das Lokalduell zwischen Borussia Dortmund und Schalke 04 geleitet hatte.

"Plötzlich fehlen diese Emotionen", fuhr er fort. "Das ist für uns genauso elementar, weil auch wir letztendlich diese Leidenschaft leben." Die Folgen davon seien auch körperlich zu spüren gewesen, wie Aytekin hervorhob: "Ich muss zugeben, dass ich beim Derby Pulswerte hatte, die extrem niedrig waren im Vergleich zu den Spielen mit Zuschauern."

Der Grund dafür liegt auf der Hand: Ohne Publikum ist der Druck auf die Unparteiischen geringer, zumal vor leeren Rängen spürbar weniger gegen Entscheidungen gemeckert, protestiert und reklamiert wird – bislang zumindest. Doch es gibt auch Ausnahmen.

Vor allem bei Aytekins Kollege Sören Storks dürfte am Samstagnachmittag in der 55. Minute der Partie zwischen Borussia Mönchengladbach und Bayer 04 Leverkusen (1:3) die Herzfrequenz vorübergehend signifikant erhöht gewesen sein. Da nämlich entschied er beim Stand von 1:1 auf Strafstoß für die Gäste, nachdem er es unmittelbar zuvor auf der anderen Seite nicht getan hatte. Und das erregte den Unmut der Hausherren.

Dabei hatte Storks nichts falsch gemacht. Gewiss, Aleksandar Dragović hatte seinen linken Arm sanft um die Hüfte des Gladbachers Marcus Thuram gelegt und ihn damit zweifellos bei dessen Torschuss aus zehn Metern beeinträchtigt. Der Leverkusener Torwart Lukáš Hrádecký hatte es dadurch leichter, den Ball abzuwehren. Aber ein klares, elfmeterreifes Foul sieht genauso unzweifelhaft anders aus, und nur sehr kleinliche Unparteiische hätten in dieser Situation einen Strafstoß gegeben. Dennoch wünscht man sich als Referee nichts weniger, als gleich danach auf der anderen Seite die nächste schwierige Strafraumsituation zu bewerten zu haben – und anders entscheiden zu müssen.

Ein ungeschriebenes Gesetz, das den Regeln entgegensteht

Denn jeder Schiedsrichter weiß: Das bringt Stress, da kann die Entscheidung noch so korrekt sein. In diesem Fall kamen für Sören Storks zwei Faktoren erschwerend hinzu: ein ungeschriebenes Gesetz – und sein Video-Assistent. Passiert war dies: Der direkte Gegenzug der Leverkusener endete im Mönchengladbacher Strafraum mit einem Torschuss von Karim Bellarabi. Mit einer Grätsche versuchte Nico Elvedi, diesen Abschluss zu verhindern, doch er kam zu spät. Sein Glück dabei: Der Ball ging klar am Tor vorbei. Sein Pech dagegen: Er traf im Rutschen Bellarabis Schussbein und brachte dadurch den Stürmer der Gäste zu Fall. Da hatte der Ball die Torauslinie noch nicht überschritten, das heißt: Er war im Spielfeld.

Dass Referee Storks auf Strafstoß erkannte, war deshalb völlig richtig, denn alle Voraussetzungen für einen Elfmeter waren klar erfüllt. Trotzdem reagierte so mancher irritiert, nicht nur auf Gladbacher Seite: Gab es da nicht das stillschweigende, weithin akzeptierte Agreement, dass auf einen Strafstoßpfiff verzichtet wird, wenn es erst nach dem Torabschluss zum Foul kommt und der Ball anschließend am Tor vorbeigeht?

Tatsächlich bleibt die Pfeife der Unparteiischen in einer solchen Situation häufig stumm. Der Grund dafür ist, dass der Torschuss des Spielers durch das Foul nicht beeinträchtigt wird. Warum also einen Elfmeter geben? Welche Torchance sollte ein Strafstoß hier wiederherstellen? Sie wurde ja bereits ganz ohne unfaires Verhalten des Gegners vergeben.

Allerdings legen die Fußballregeln unmissverständlich fest, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit ein Foulspiel vorliegt. "Ein Vergehen mit Körperkontakt wird mit einem direkten Freistoß geahndet" und im Strafraum eben mit einem Strafstoß, heißt es lapidar in der Regel 12 (Fouls und unsportliches Betragen). Zu diesen Vergehen zählen beispielsweise das Anspringen, Treten, Stoßen, Schlagen, Beinstellen und auch das Tackling, bei dem nicht der Ball, sondern nur der Gegner getroffen wird.

Nirgendwo steht geschrieben, dass ein Foul kurz nach einem Torschuss, der am Kasten des Gegners vorbeirauscht, ungeahndet bleiben soll. Schließlich bleibt es ein Foul, auch wenn viele nichts dagegen haben, dass die Referees in solchen Fällen oft nicht pfeifen.

Anders sieht es prinzipiell nur dann aus, wenn der Ball zum Zeitpunkt des Vergehens nicht mehr innerhalb des Spielfelds war, sondern bereits eine Begrenzungslinie überschritten hatte. Dann kann es zwar noch eine persönliche Strafe geben, also eine Karte, aber weder einen Freistoß noch einen Strafstoß. Durchaus überraschend kam im Borussia-Park der Eingriff des Video-Assistenten, denn klar und offensichtlich falsch war die Elfmeterentscheidung nicht. Und selbst wenn Sören Storks die Wahrnehmung gehabt haben sollte, dass es bereits vor dem Schuss von Bellarabi zum Foulspiel kam, hätte das an der Sachlage nichts geändert. Folgerichtig blieb der Schiedsrichter nach dem Gang in die Review Area am Spielfeldrand dann auch bei seiner Entscheidung.

Die Absicht ist beim Foul weniger bedeutsam als das Ergebnis

Der eine oder andere Gladbacher wird sich gleichwohl an den 18. Spieltag der Saison 2017/18 erinnert haben, als die Borussia beim 1. FC Köln spielte und sich eine ganz ähnliche Szene ereignete – allerdings auf der anderen Seite und mit anderem Ausgang: Damals wurde Jonas Hofmann kurz nach seinem Abschluss von Jorge Meré im Kölner Strafraum gefoult, doch der Unparteiische Felix Zwayer pfiff nicht und blieb auch nach dem Betrachten der Bilder am Spielfeldrand dabei. Vielleicht wäre eine klare Ansage der sportlichen Leitung der Bundesliga-Referees zur Frage der Regelpraxis in solchen Situationen sinnvoll, selbst wenn die Sachlage regeltechnisch eigentlich eindeutig ist.

In den übrigen leeren Stadien ging es für die Unparteiischen erneut recht ruhig zu, die Referees kommen bislang sehr gut mit den ungewohnten Rahmenbedingungen zurecht und leiten ihre Begegnungen überwiegend ohne Probleme. Alles im allem gab es auch diesmal nur wenige wirklich kontroverse Situationen, eine davon ereignete sich in der Partie des VfL Wolfsburg gegen Borussia Dortmund (0:2). Dort verfehlte der Wolfsburger Felix Klaus bei einem Zweikampf knapp den Ball, weil sein Gegenspieler Manuel Arkanji einen Wimpernschlag schneller war. Infolgedessen stieg Klaus dem Dortmunder mit der offenen Sohle aufs Wadenbein. Da Schiedsrichter Daniel Siebert das nicht wahrnahm, schaltete sich der Video-Assistent ein.

Nach dem On-Field-Review gab es die Rote Karte für den Wolfsburger, der verzweifelt argumentierte, nicht absichtlich gehandelt zu haben. Das war auch glaubwürdig, denn der Tritt in Arkanjis Wade war offensichtlich nicht gewollt. Allerdings spielt die Frage der Absicht bei der Bewertung von Zweikämpfen letztlich keine Rolle, zumal sie sich oft nicht eindeutig beantworten lässt. Die Schiedsrichter fällen ihr Urteil deshalb vor allem auf der Grundlage des – leichter festzustellenden – Ergebnisses einer Handlung. Das heißt: Wer im Zweikampf zu spät kommt und dadurch die Gesundheit seines Gegners gefährdet, wird bestraft – auch wenn er diese Gefährdung nicht beabsichtigt hat. Auf den Feldverweis gegen Klaus passt deshalb die Floskel "hart, aber vertretbar" recht gut.

Alex Feuerherdt