08.06.2020 09:24 Uhr

Kaan Ayhan und sein Schlag ins eigene Gesicht

Benjamin Hübner (M.) muss nach einem vermeintlichen Gesichtstreffer vom Feld
Benjamin Hübner (M.) muss nach einem vermeintlichen Gesichtstreffer vom Feld

Der Hoffenheimer Kapitän sieht die Rote Karte, weil es seinem Gegenspieler gelingt, eine Tätlichkeit vorzutäuschen. Auch der Video-Assistent wird davon getäuscht. Mit einem Freispruch durch das Sportgericht ist dennoch nicht zu rechnen.

Viele waren amüsiert, als im Februar 2011 nach dem sonst eher mäßig beachteten WM-Qualifikationsspiel der U20-Teams von Ecuador und Chile das Video einer geradezu grotesken Spielszene viral ging. Es zeigt den Chilenen Bryan Carrasco und seinen Gegenspieler Edson Montano beim Zweikampf in Erwartung eines Einwurfs für Ecuador. Als der Ball im Spiel war, ergriff Carrasco plötzlich den linken Arm seines Kontrahenten, riss ihn nach oben und schlug sich damit selbst ins Gesicht. Anschließend ging er mit dramatischer Geste zu Boden.

Was er damit erreichen wollte, lag auf der Hand: einen Feldverweis für Montano. Den gab es zwar nicht, aber immerhin errang Carrasco einen "Teilerfolg": Der Schiedsrichter entschied auf Freistoß für Chile.

So unfair diese Aktion war, so sehr gab sich der Spieler auch der Lächerlichkeit preis. Das gilt auch für Ramy Bensebaini: Als der für Borussia Mönchengladbach spielende Profi im Sommer des vergangenen Jahres beim Afrika-Cup im Viertelfinale mit Algerien auf die Elfenbeinküste traf, tat er es kurz vor der Halbzeitpause Carrasco gleich, ebenfalls nach einem Einwurf.

Dieses Mal ließ sich der Unparteiische allerdings nicht ins Bockshorn jagen: Er ermahnte Bensebaini, der bereits verwarnt war und sich überaus glücklich schätzen durfte, nicht mit Gelb-Rot vorzeitig den Platz verlassen zu müssen. Denn eigentlich handelt es sich um eine Unsportlichkeit, um eine ähnliche Täuschung wie eine "Schwalbe".

Mit diesem abgefeimten Manöver konnte der Referee nicht rechnen

Nun hat sich auch in der Bundesliga ein vergleichbarer Fall zugetragen, nämlich in der neunten Minute der Begegnung zwischen Fortuna Düsseldorf und der TSG 1899 Hoffenheim (2:2). Vor der Ausführung eines Eckstoßes für die Gäste gab es das gewohnte Gerangel und Gedrängel im Strafraum, die Spieler nahmen Tuchfühlung zu ihren jeweiligen Gegnern auf – und plötzlich ging der Düsseldorfer Kaan Ayhan zu Boden.

Als Grund dafür machte Schiedsrichter Sören Storks einen Schlag von Benjamin Hübner aus, weshalb er dem Hoffenheimer Kapitän die Rote Karte zeigte. Dieser protestierte energisch beim Unparteiischen, doch Storks bleib bei seiner Entscheidung, zumal Video-Assistent Christian Dingert kein On-Field-Review empfahl.

Später aber spielte das Fernsehen eine Zeitlupe ein, die zeigte, dass Ayhan sich die Tätlichkeit gewissermaßen selbst zugefügt hatte: Er hatte den linken Arm von Hübner, der vor ihm stand, mit seinem rechten Arm nach oben gedrückt und dadurch bewirkt, dass ihn die Hand seines Gegenspielers im Gesicht traf. Anschließend hatte sich der Düsseldorfer theatralisch fallen lassen.

Es ist gleichwohl nachvollziehbar, dass der Referee den Vorgang anders wahrnahm und Hübner für die Schlagbewegung verantwortlich machte, zumal die Situation unübersichtlich war, anders als in den erwähnten Spielen bei der U20 und im Afrika-Cup. Hinzu kommt, dass man als Schiedsrichter mit vielem rechnet, aber nicht mit einem solch abgefeimten Manöver.

Auch dem VAR kann man kaum einen Vorwurf machen: Erst die normalerweise nachrangige Torlinienkamera – die sonst in Anspruch genommen wird, um zu prüfen, ob der Ball die Torlinie überschritten hat – zeigt mit einer Ausschnittvergrößerung und in verlangsamter Geschwindigkeit das gänzlich Unerwartete und Unerwartbare mit der erforderlichen Klarheit. Die anderen, häufiger verwendeten Kameraeinstellungen hingegen legen den tatsächlichen Sachverhalt allenfalls nahe und lassen ihn insoweit nicht offensichtlich werden.

Es bedurfte also schon einer gewissen detektivischen Akribie, um Ayhan zu überführen. Doch Detektive sollen die Video-Assistenten nicht sein. Gleichwohl muss man festhalten: Die Rote Karte für Hübner war unberechtigt. 

Eine Sperre blüht Hübner trotzdem

Trotzdem wird er um eine Sperre vermutlich nicht herumkommen, denn nach den Regularien der Fifa zieht jeder Feldverweis eine Zwangspause von mindestens einem Spiel nach sich. Ausnahmen werden sehr selten gemacht und nur bei einem sogenannten offensichtlichen Irrtum des Unparteiischen. Dieser liegt beispielsweise vor, wenn im Zuge einer Verwechslung dem falschen Spieler die Rote Karte gezeigt wird – was es jedoch seit der Einführung des VAR in der Bundesliga nicht mehr gegeben hat. Aber auch angesichts der Tatsache, dass selbst der Video-Assistent trotz mehrerer Wiederholungen Ayhan nicht auf die Schliche gekommen ist, scheint es zweifelhaft, dass der Irrtum als offensichtlich eingestuft wird.

Denkbar ist aber, dass es bei der Mindestsperre von einem Spiel für Hübner bleibt. Dazu müssten der Kontrollausschuss und das Sportgericht des DFB eine Tätlichkeit verneinen – denn für diese wären wenigstens zwei Spiele Sperre fällig – und auf "unsportliches Verhalten" erkennen.

Kaan Ayhan dagegen dürfte unbehelligt bleiben. Hätte der Schiedsrichter dessen Täuschungsmanöver auf dem Feld wahrgenommen, dann wäre eine Gelbe Karte die richtige Konsequenz gewesen. Benjamin Hübner war jedenfalls stocksauer: "Er schlägt mit seinem Arm meinen Arm nach oben", sagte er nach dem Spiel. "Meine Hand fährt in sein Gesicht, nicht fest. Meine Hand soll einfach nur zum Körper gehen, weil ich Abstand halten will. Und was Kaan Ayhan daraus macht, ist für mich eine ganz große Frechheit und eine Schande."

Was sonst noch wichtig war: 

•    Sören Storks hatte noch weitere knifflige Entscheidungen zu treffen: Nach 20 Minuten annullierte er beim Stand von 1:1 im Anschluss an ein Review einen Treffer von Fortuna Düsseldorf, weil er den vorangegangenen Armeinsatz von Kenan Karaman im Luftkampf mit Stefan Posch als regelwidrig bewertete.

Und in der 75. Minute entschied der Referee auf Strafstoß für die Hausherren, nachdem Havard Nordtveit im eigenen Strafraum Hand an den Rücken von Erik Thommy angelegt hatte. Beide Entscheidungen sind als recht streng zu bewerten und hätten auch anders ausfallen können, allerdings passten sie durchaus zur eher kurzen Leine des Unparteiischen bei der Zweikampfbeurteilung. 

•    Gar nicht einverstanden war Heiko Herrlich mit dem Video-Assistenten Guido Winkmann im Spiel seines FC Augsburg gegen den 1. FC Köln (1:1). Der Coach der Gastgeber war der Ansicht, dass es in der 49. Minute einen Elfmeter hätte geben müssen, als sein Spieler Noah Sarenren Bazee im Dreikampf mit Rafael Czichos und Ismail Jakobs zu Fall kam. Doch Schiedsrichter Benjamin Cortus pfiff nicht, und daran änderte sich auch nach einer kurzen Unterredung mit seinem VAR nichts. Das war in Ordnung, denn selbst wenn es Argumente für einen Strafstoß gab – wie die kurzen Kontakte im Schulter- und im Fußbereich –, lag kein glasklarer Fehler des Referees vor.

Herrlich war jedoch anderer Ansicht – und unterstellte Winkmann, aus Befangenheit nicht interveniert zu haben: "Das ist ein Skandal. Es geht hier um den Klassenerhalt, und da sitzt einer, der 30 Kilometer weg von Köln lebt", sagte er gegenüber dem Sender "Sky". Die Wahrheit ist jedoch: Von Winkmanns Wohnort Kerken sind es rund 90 Kilometer bis in die Domstadt, Winkmann gehört einem anderen Landesverband an als die Kölner und ist deshalb schon häufig als Unparteiischer oder VAR bei Spielen des "Effzeh" eingesetzt worden.

Ohnehin gebietet es die Professionalität, sich von Dingen wie der geografischen Nähe zu einem Klub nicht beeinflussen zu lassen. Herrlichs Äußerung ist deshalb eine Unterstellung, die ein schlechtes Licht auf ihn wirft.

Alex Feuerherdt