21.12.2020 16:34 Uhr

Ein Bodycheck lässt "Kölner Keller" kalt

Ridle Baku vom VfL Wolfsburg im Duell mit Nicolás González vom VfB Stuttgart
Ridle Baku vom VfL Wolfsburg im Duell mit Nicolás González vom VfB Stuttgart

In Wolfsburg rempelt Ridle Baku einen Stuttgarter um, als dieser kurz vor dem Abschluss steht. Am Ball ist er dabei nicht interessiert, dennoch lässt der Schiedsrichter weiterspielen, und der VAR erhebt keinen Einwand. Das wirft erneut die Frage nach der Eingriffsschwelle auf.

Da saß er nun auf dem Rasen, der Stuttgarter Stürmer Nicolás González, hob die Arme und schien die Welt nicht mehr zu verstehen. Eben war er im Spiel des VfL Wolfsburg gegen den VfB Stuttgart (1:0) mit dem Ball am Fuß in den Strafraum der Niedersachsen eingedrungen und hatte kurz vor dem Torschuss gestanden, da trennte ihn Ridle Baku mit einem energischen Einsatz des Oberkörpers vom Ball. Auch im Bereich der Füße gab es einen – allerdings nur leichten – Kontakt.

González ging zu Boden, doch der gut postierte Schiedsrichter Florian Badstübner breitete sofort seine Arme aus, die bekannte Geste für "da war nichts, weiterspielen".

Wenn man sich die Szene aus der 9. Minute noch einmal aus verschiedenen Kameraperspektiven betrachtet, kommen allerdings Zweifel an dieser Entscheidung auf. Denn Bakus Körpereinsatz war das, was man landläufig einen Bodycheck nennt und regeltechnisch als Rempeln bezeichnet.

Nun ist Fußball bekanntlich ein Kontaktsport, und nicht jeder Kontakt ist strafbar. Aber zum einen war die eingesetzte Kraft ursächlich dafür, dass Gonzalez fiel. Zum anderen, und das ist hier noch wichtiger, war ein Versuch, den Ball zu erreichen, nicht zu erkennen. Bakus Aktion richtete sich ausschließlich gegen den Gegner, der einen Vorsprung hatte und im nächsten Moment hätte abschließen können.

Zu einem On-Field-Review kam es nach der Überprüfung der Szene durch Video-Assistent Günter Perl allerdings nicht. Theoretisch kommen dafür zwei Erklärungen in Betracht: Der erfahrene Perl könnte zu einem Review geraten, Badstübner in seinem vierten Bundesligaspiel diese Empfehlung jedoch abgelehnt haben. Das wäre möglich und zulässig, ist aber unwahrscheinlich.

Eher dürfte der VAR zu dem Schluss gekommen sein, dass die Entscheidung des Unparteiischen nicht klar und offensichtlich falsch war und es deshalb nicht des Gangs an den Monitor am Spielfeldrand bedurfte. Doch wäre dieser Entschluss zu rechtfertigen?

Eine Frage der Eingriffsschwelle

Es geht hier wieder einmal um die sogenannte Eingriffsschwelle des VAR. Diese soll, so die einhellige Meinung der Regelhüter vom International Association Board (Ifab) und der Verbände von der Fifa bis zum DFB, grundsätzlich hoch sein. Vor allem, wenn der Schiedsrichter die betreffende Szene klar wahrgenommen und bewertet hat – denn prinzipiell soll genau dieser Eindruck in Echtzeit auf dem Spielfeld maßgeblich bleiben. Fehlte dem Referee dagegen die Wahrnehmung ganz oder teilweise – etwa, weil ihm ein Spieler für einen Moment die Sicht versperrte oder er ungünstig positioniert war –, dann liegt die Eingriffsschwelle logischerweise niedriger.

Was und wie viel der Unparteiische in einer überprüfbaren Situation gesehen hat, kommuniziert er über das Headset gegenüber dem VAR. Dieser muss dann beurteilen, ob nach strengen Maßstäben ein klarer und offensichtlicher Fehler vorliegt, also eine falsche Wahrnehmung, oder ob etwas Spielrelevantes "übersehen" wurde, also eine fehlende Wahrnehmung gegeben ist.

Es liegt auf der Hand, dass es gerade im Bereich der Zweikampfbewertung einen Ermessensspielraum gibt, einen Graubereich, der auch die Frage berührt, wann eine Entscheidung so eindeutig falsch ist, dass sie sich unter keinen Umständen mehr vertreten lässt. Der VAR ist mithin nicht dazu da, dem Schiedsrichter zur besseren von zwei möglichen Entscheidungen zu verhelfen.

Bei Bakus Rempler wäre ein Eingriff angebracht gewesen

Die Grenzziehung beim Eingriff ist gerade dann schwierig, wenn der Unparteiische selbst alles im Blick hatte. Und sie ist umso kniffliger, wenn es sich um Zweikämpfe im Oberkörperbereich handelt, wo es häufig nicht leicht zu bestimmen ist, ob die Wirkung tatsächlich zum Impuls passt. Bei der Szene nach neun Minuten in Wolfsburg müsste man also fragen: War es unter der Maßgabe einer sehr großzügigen Linie bei der Zweikampfbeurteilung gerade noch akzeptabel, den Körpereinsatz von Baku gegen Gonzalez durchzuwinken? Oder muss man schon von einem klaren und offensichtlichen Fehler sprechen?

Das Ifab und die Fifa hatten gegenüber den Verbänden, die den VAR einsetzen, zuletzt noch einmal kritisch angemerkt, dass es eher zu viele als zu wenige Eingriffe gebe und die Entscheidung des Schiedsrichters bei vollumfänglicher Wahrnehmung einer Szene bestehen bleiben solle, sofern sie nicht völlig abwegig ist. Womöglich hatte Florian Badstübner auf dem Rasen den Eindruck, dass Nicolás González zu leicht zu Boden gegangen ist, weshalb ihm ein Strafstoß – und die Rote Karte wegen einer nicht ballbezogenen "Notbremse" – unangemessen schien.

Doch die Bilder zeigen, dass es für diese Einschätzung eigentlich kein Argument gibt. Dafür war Bakus Bodycheck zu kräftig, und das bei fehlendem Interesse, den Ball zu erreichen. Selbst wenn der Unparteiische gegenüber dem Video-Assistenten also kommuniziert haben sollte, dass ihm der Körpereinsatz des Wolfsburgers nicht für einen Elfmeterpfiff genügt hat, wäre eine Intervention angebracht gewesen. Den Einwand, dass die Eingriffsschwelle dann zu niedrig gewesen wäre, würden vermutlich nicht allzu viele Menschen erheben.

Was sonst noch wichtig war:

  • Wenn es den Video-Assistenten nicht gäbe, wäre Marcus Thuram in der Partie seines Klubs Borussia Mönchengladbach gegen die TSG 1899 Hoffenheim (1:2) ungestraft davongekommen, als er nach 78 Minuten seinem Gegenspieler Stefan Posch aus wenigen Zentimetern anspuckte. Denn Schiedsrichter Frank Willenborg war dieses grob unsportliche Verhalten verborgen geblieben. Doch der VAR deckte es auf, und so bekam Thuram doch noch die hochverdiente Rote Karte. Die Länge der Sperre dürfte erheblich sein: Spucken wird als Tätlichkeit gewertet, der Strafrahmen dafür liegt zwischen sechs Wochen und sechs Monaten. Abgemildert werden kann die Strafe im Falle einer vorherigen "sportwidrigen Handlung" des Gegners. Ob das der Fall war – Posch bekam in dieser Situation die Gelbe Karte –, wird die Sportgerichtsbarkeit des DFB zu entscheiden haben. Die letzten Sperren wegen Spuckens in der Bundesliga wurden gegen Ozan Kabak (FC Schalke 04, vier Spiele) und Santiago Ascacíbar (VfB Stuttgart, sechs Spiele) ausgesprochen. Beide hatten allerdings nur in die Richtung ihrer Gegner gespuckt und sie nicht aus kurzer Distanz mitten im Gesicht getroffen.

>> DFB sperrt Thuram für sechs Spiele

  • Die Uefa unterteilt ihre Unparteiischen in drei Kategorien: "Elite", "First" und "Second". Zur höchsten Kategorie, die beispielsweise zur Leitung von Topspielen in der Champions League berechtigt, zählten aus Deutschland bislang Felix Brych, Deniz Aytekin und Felix Zwayer. Ab dem 1. Januar 2021 wird auch Tobias Stieler dazu gehören, er steigt aus der "First"-Gruppe auf. Diese Beförderung hatte sich abgezeichnet, nachdem der 39-Jährige zuletzt in mehreren wichtigen Partien eingesetzt wurde: In der Nations League pfiff er die Begegnungen England – Belgien (2:1) und Portugal – Frankreich (0:1), in der Champions League leitete er die Spiele zwischen dem FC Liverpool und Ajax Amsterdam (1:0) sowie zwischen dem FC Barcelona und Juventus Turin (0:3). In der Bundesliga gehört Stieler schon seit einigen Jahren zu den Referees, die auch mit potenziell brisanten Partien betraut werden. Beim Aufeinandertreffen zwischen dem FC Bayern München und Borussia Dortmund etwa wurde er bereits viermal eingesetzt.

Alex Feuerherdt