02.09.2021 15:33 Uhr

Warum der Kroos-Rücktritt ein Glücksfall sein könnte

Joshua Kimmich vom FC Bayern (r.) ist der neue Mittelfeld-Boss der Nationalmannschaft
Joshua Kimmich vom FC Bayern (r.) ist der neue Mittelfeld-Boss der Nationalmannschaft

Mit dem WM-Qualifikationsspiel gegen Liechtenstein am Donnerstag startet die deutsche Fußball-Nationalmannschaft unter Bundestrainer Hansi Flick in eine neue Ära. Nicht mehr mit dabei ist Toni Kroos. Der Rücktritt des Dauerbrenners könnte sich für das DFB-Team als Glücksfall erweisen - insbesondere für Joshua Kimmich vom FC Bayern.

Wohin die Reise der Nationalmannschaft unter seiner Regie gehen soll, daraus macht Hansi Flick seit seinem Amtsantritt keinen Hehl. Eine "All-in-Mentalität" und "attraktiven, begeisternden und erfolgreichen Fußball" setzte der neue Bundestrainer ganz oben auf die Agenda.

Einer, auf den Flick bei der Verwirklichung dieses Vorhabens ganz besonders baut, ist Joshua Kimmich. Der 26 Jahre alte Mittelfeldspieler, beim FC Bayern und auch im DFB-Team schon lange einer der Tonangeber, erfüllt das Anforderungsprofil seines neuen alten Trainers zu 100 Prozent.

Joshua Kimmich unter Hansi Flick "definitiv" auf der Sechs

Flick setzt auf Kimmich als zentrale Figur - im wahrsten Sinne des Wortes, auch auf dem Platz. Den bei vielen Beobachtern umstrittenen Schachzug seines Vorgängers Jogi Löw, Kimmich bei der enttäuschenden EM durchgängig als Rechtsverteidiger einzusetzen, machte der ehemalige Erfolgscoach des FC Bayern gleich mal rückgängig - und das absolut unmissverständlich und allem Anschein nach auch unwiderruflich.

"Definitiv" werde Kimmich unter ihm in der Mittelfeld-Zentrale spielen, stellte Flick auf der DFB-Pressekonferenz am Mittwoch klar. Kimmich sei " technisch sehr stark" und habe "einen enormen Willen", schwärmte der Bundestrainer. Auf der Sechs sei der frühere Leipziger "einer der besten" der Welt.

Flick forderte, Kimmich müsse jetzt "den nächsten Schritt machen und die Mannschaft positiv pushen. Er muss auf dem Feld der Leader sein, den man braucht auf der Position".

Toni Kroos war unter Joachim Löw der Chef

Unter Löw war diese Chef-Rolle über viele Jahre fest an einen anderen Spieler vergeben: Toni Kroos. Wenn der Weltmeister von 2014 und viermalige Champions-League-Sieger mit Real Madrid fit war, spielte er. Nach dem blamablen Vorrunden-Aus bei der WM 2018 rasierte Löw die verdienten Kräfte Mats Hummels, Thomas Müller und Jérôme Boateng. Kroos hingegen blieb unantastbar.

Für Begeisterung in Fußball-Deutschland sorgte das zuletzt immer weniger, auch abseits der unsäglichen (und zudem völlig unsinnigen) "Querpass-Toni"-Polemik seiner Dauerkritiker.

Vor der EM-Endrunde meldete die "Süddeutsche Zeitung" bereits "Zweifel am König des Passspiels" an. Nach dem auch aus Kroos' persönlicher Sicht enttäuschenden Turnier ätzte Lothar Matthäus im "kicker", er sei mit der Spielweise des 31-Jährigen "nicht einverstanden" gewesen. In seiner "Sky"-Kolumne bemängelte der Rekord-Nationalspieler, "Leidenschaft, Feuer und vertikale Pässe" hätten beim EM-Auftritt des Real-Stars gefehlt.

Wohlgemerkt: Zu diesem Zeitpunkt hatte Kroos seinen Rücktritt aus dem Nationalteam bereits verkündet.

Hansi Flick wollte mit Toni Kroos weitermachen

Ein deutliches Indiz für Kroos' schwindendes Standing in der öffentlichen Wahrnehmung: Diskussionen, ob sein Abdanken eine Schwächung für die DFB-Elf darstellen könnte, kamen rund um Flicks Amtsübernahme und erste Kadernominierung gar nicht auf.

Kroos selbst bestätigte zwar in einem "Bild"-Interview anlässlich seines Rücktritts, Flick habe ihn bereits vor der EM kontaktiert und mit ihm weiter zusammenarbeiten wollen. Ins stark auf Pressing und schnelles Vertikalspiel ausgerichtete System des Münchner Triple-Trainers von 2020 passt der Stratege aber nur bedingt.

Ohne Wenn und Aber gesetzt wäre Kroos unter Flick wohl jedenfalls nicht mehr gewesen, zumal sich auch Hochkaräter wie Bayern-Kumpel Leon Goretzka und Ilkay Gündogan um den Platz in der Zentrale neben Fixpunkt Kimmich bewerben.

Setzt Hansi Flick auf eine FC-Bayern-Achse?

Für Flick eröffnet der Kroos-Rücktritt nun die Chance, in den kommenden knapp anderthalb Jahren bis zur Winter-WM in Katar eine Bayern-Achse, bestehend aus Manuel Neuer, Kimmich, Goretzka und Thomas Müller zu etablieren. Die Gefahr, dass ein möglicher Bankplatz für Kroos zum Dauerthema wird, ist gebannt.

Für Kimmich wiederum ist der Weg frei, die von Flick geforderte Entwicklung zum neuen Mittelfeld-Boss zu gehen. In St. Gallen könnte der Münchner die Mannschaft in Abwesenheit des verletzten Manuel Neuer sogar als Kapitän auf den Platz führen.

Die Binde trug Kimmich letztmals 2017 beim Confed Cup in Russland. "Ich musste sie mit einer Klammer enger machen und habe gesagt, dass bis zum nächsten Mal der Bizeps wachsen muss", sagte er vor dem Liechtenstein-Spiel mit einem Augenzwinkern. Sollte er die Kapitänsrolle übernehmen dürfen, hoffe er, "dass die Binde ein bisschen kleiner geworden ist".

Tobias Knoop