29.11.2021 06:42 Uhr

"Collinas Erben" über den VAR-Ärger bei RB vs. Bayer

RB Leipzig vs. Bayer Leverkusen: Cortus und sein Assistent begutachten die Szene
RB Leipzig vs. Bayer Leverkusen: Cortus und sein Assistent begutachten die Szene

In Leipzig müssen sich Referee und VAR mit einem komplizierten Teil der Abseitsregel auseinandersetzen, entscheiden aber richtig. In Bochum bleibt ein Handspiel zu Recht ungestraft, bei VfB Stuttgart vs. Mainz 05 setzt ein FSV-Star seine Fäuste regelkonform ein.

Gerade mal siebeneinhalb Minuten waren in der Partie zwischen RB Leipzig und Bayer 04 Leverkusen (1:3) absolviert, da musste Josep Martínez erstmals hinter sich greifen: Nach einer schnellen und präzisen Kombination über Exequiel Palacios, Patrik Schick und Amine Adli überwand schließlich Moussa Diaby den Leipziger Torhüter. Schiedsrichter Benjamin Cortus gab den Treffer zunächst, aber Video-Assistent Felix Zwayer fiel bei der Überprüfung etwas auf. Adli hatte sich bei Schicks Zuspiel im Abseits befunden, das war auf den Fernsehbildern anhand des Rasenmusters auch ohne kalibrierte Linien recht gut zu erkennen. Doch der Check in der Kölner Videozentrale zog sich in die Länge.

Nach zwei Minuten lief der Unparteiische sogar selbst zum Monitor, um ein On-Field-Review durchzuführen, und nahm dabei zu Beratungszwecken auch noch einen seiner Assistenten mit. Damit war klar: Hier ging es nicht um die Abseitsstellung als solche, sondern um ein kniffligeres Problem. Das bestand darin, dass der Leipziger Lukas Klostermann den Ball, als dieser auf dem Weg von Schick zu Adli war, noch berührt hatte. Zwar nur ganz leicht, aber es kam hier nicht auf die Deutlichkeit an, sondern darauf, ob Klostermann beabsichtigt hatte, den Ball zu treffen, oder ob dieser ohne sein aktives Zutun von ihm abgefälscht wurde.

Das ist nach dem Regelwerk ein Unterschied ums Ganze: Ein absichtliches Spielen des Balles – "deliberate play" ist der englische Fachterminus dafür – durch einen Verteidiger hebt das Abseits auf. Dabei kommt es, wohlgemerkt, nur darauf an, ob dieser Verteidiger den Ball überhaupt spielen wollte, und nicht auf das Wie, also nicht darauf, wo die Kugel anschließend gelandet ist. Wird ein Abwehrspieler dagegen unkontrolliert vom Ball getroffen oder gestreift, ohne selbst etwas dazu beigetragen zu haben – der englische Regelbegriff lautet "deflection" –, dann ist diese Absicht nicht gegeben. Gelangt der Ball daraufhin zu einem Angreifer im Abseits, dann ist dieses Abseits strafbar.

"Deliberate play" oder "deflection" von Klostermann?

Der Sinn dieser Unterscheidung ist es, etwas vereinfacht gesagt, dass der Verteidiger beim "deliberate play" aus freien Stücken den Ball spielt oder berührt und daher auch verantwortet, wohin die Kugel anschließend geht. Bei der "deflection" dagegen handelt er nicht absichtlich und hat keinerlei Kontrolle darüber, wohin der Ball springt. Ob ein "deliberate play" oder eine "deflection" vorliegt, ist nicht immer völlig eindeutig zu sagen, manche Fälle spielen sich im Graubereich ab. Zur Abgrenzung hat die Fifa vier Leitfragen entwickelt: 1. Bewegt sich der Verteidiger zum Ball, handelt er also bewusst? 2. Hat er Zeit und verschiedene Möglichkeiten zu handeln? 3. Hat er die Kontrolle über seine Aktion? 4. Ist die räumliche Distanz zwischen Passgeber und Verteidiger groß?

Lassen sich diese Fragen zumindest größtenteils bejahen, dann liegt ein "deliberate play" vor, andernfalls eine "deflection". In Leipzig entschied Schiedsrichter Cortus nach dem Betrachten der Bilder, dass Klostermann den Ball nicht absichtlich gespielt hatte, sondern unkontrolliert von ihm gestreift wurde. Damit war und blieb Adlis Abseitsstellung strafbar, deshalb wurde das Tor schließlich annulliert. Eine nachvollziehbare Entscheidung, denn Klostermann wurde von der Verlängerung des Balles durch Schick erkennbar überrascht und hatte aufgrund der kurzen Entfernung kaum Reaktionszeit. Sein linker Fuß schnellte auch erst zum Schussversuch nach vorne, als es bereits zum Ballkontakt gekommen war. Ein "deliberate play" sieht anders aus.

VfL Bochum: Handspiel strafbar oder unabsichtlich?

Auch in der Begegnung des VfL Bochum gegen den SC Freiburg (2:1) stellte sich dem Referee in einer Situation eine regeltechnisch anspruchsvolle Aufgabe, bei der ebenfalls sein Ermessen gefragt war. Nach etwas mehr als einer Stunde parierte der Bochumer Torwart Manuel Riemann zunächst einen Schuss von Lucas Höler, der anschließende Nachschuss von Vincenzo Grifo flog am Tor vorbei. Dabei hatte Anthony Losilla den Ball allerdings leicht abgefälscht – und zwar mit seiner rechten Hand. Dieses Handspiel hatte Schiedsrichter Patrick Ittrich zwar wahrgenommen, aber als nicht strafbar bewertet. Deshalb entschied er auf Eckstoß für die Freiburger, die jedoch lieber einen Elfmeter zugesprochen bekommen hätten.

Eine Situation im Graubereich. Für eine Strafbarkeit des Handspiels sprach, dass Losillas rechter Arm nach vorne ausgefahren war, als es zum Ballkontakt kam. Das könnte man aus gutem Grund als unnatürliche Vergrößerung der Körperfläche betrachten. Gegen die Ahndungswürdigkeit sprach jedoch, dass die Gesamtbewegung des Bochumers auf eine Vermeidung des Handspiels ausgerichtet war: Er zog den ballnahen linken Arm – mit dem ein Handspiel wahrscheinlicher war als mit dem ballfernen – eng an den Körper und drehte sich aus der Flugbahn des Balles. Der rechte Arm stand zwar deutlich vom Körper ab, war aber nicht unter Spannung, was ein weiteres Indiz dafür ist, dass der Ball, den Losilla zuletzt nicht mehr im Blick hatte, nicht damit aufgehalten werden sollte.

In der vergangenen Saison stand bei der Bewertung von Handspielen noch die reine Armhaltung im Mittelpunkt, deshalb wäre in einem solchen Fall höchstwahrscheinlich ein Strafstoß verhängt worden. Doch seit der jüngsten Regeländerung spielt wieder das Kriterium der Absicht die maßgebliche Rolle bei der Bewertung von Handspielen. Und mit Blick darauf ist die Entscheidung von Patrick Ittrich zumindest vertretbar, weil Losillas Wegdrehen darauf schließen lässt, dass der Bochumer nicht beabsichtigt hat, den Ball mit der Hand zu spielen. Im Rahmen des Ermessens hätte es gleichwohl auch Argumente für einen Elfmeterpfiff gegeben. So oder so war kein klarer Fehler gegeben, der den VAR unausweichlich zum Eingreifen gezwungen hätte.

Warum der Elfmeter für den VfB Stuttgart wieder kassiert wurde

Eine solche Intervention gab es dagegen in der Auftaktpartie des Spieltags zwischen dem VfB Stuttgart und dem 1. FSV Mainz 05 (2:1). In der 25. Minute kam der Mainzer Keeper Robin Zentner nach einer Freistoßflanke von Borna Sosa aus seinem Tor und faustete den Ball aus der Gefahrenzone. Einen Wimpernschlag später landeten seine Fäuste am Kopf des Stuttgarters Konstantinos Mavropanos. Schiedsrichter Matthias Jöllenbeck sprach den Gästen erst einen Strafstoß zu, nahm diese Entscheidung aber zurück, nachdem er sich auf Empfehlung seines Video-Assistenten Thorben Siewer die Szene noch einmal auf dem Monitor am Spielfeldrand angesehen hatte.

Zu Recht, denn Zentner hatte zuerst klar und kontrolliert den Ball gespielt, den Mavropanos erfolglos mit dem Kopf zu erreichen versucht hatte. Eine torwarttypische Aktion, bei der die anschließende Kollision als Unfall zu bewerten war und nicht als Foulspiel. Anders hätten die Dinge gelegen, wenn Zentner mit angezogenem Knie in den Zweikampf gesprungen wäre und den Stuttgarter damit getroffen hätte. Da das aber nicht der Fall war und der Mainzer Schlussmann den Ball fair mit den Fäusten klärte, war die Elfmeterentscheidung nicht richtig. Dass der Video-Assistent den Schiedsrichter zur Überprüfung dieser Entscheidung anhielt und der Referee sich anschließend korrigierte, war somit völlig angemessen.

Alex Feuerherdt