08.06.2023 08:58 Uhr

Darum ist Flicks Verzicht auf Süle fragwürdig

Bundestrainer Hansi Flick verzichtet auf Niklas Süle vom BVB (l.)
Bundestrainer Hansi Flick verzichtet auf Niklas Süle vom BVB (l.)

Obwohl er aufgrund einer Muskelverletzung zu Saisonbeginn nicht gesetzt war, bestritt Niklas Süle in seiner ersten Saison seit seinem medial viel beachteten Wechsel vom FC Bayern zu Borussia Dortmund die zweitmeisten Pflichtspielminuten aller BVB-Stars. 64 Prozent gewonnene Zweikämpfe sind zudem einer der besten Werte unter den Vielspielern der deutschen Fußball-Bundesliga - von Bundestrainer Hansi Flick setzte es dennoch einen (fragwürdigen) Denkzettel.

"Wenn man den Kader anschaut, dann stellt man natürlich schon fest, dass wir viele Innenverteidiger dabei haben. Das bedeutet, dass wir auch mal eine Dreierkette ausprobieren wollen", verkündete Flick nach der Bekanntgabe des DFB-Kaders für die Freundschaftspartie gegen die Ukraine.

Worte, die auf Niklas Süle wie Häme wirken müssen, fehlt der BVB-Verteidiger zwar nicht zum ersten Mal, aber doch überraschend im Aufgebot für das 1000. Länderspiel der Geschichte der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. 

Stattdessen berief Flick die WM-Fahrer Antonio Rüdiger (Real Madrid), Matthias Ginter (SC Freiburg), Nico Schlotterbeck (BVB), Lukas Klostermann (RB Leipzig) und Thilo Kehrer (West Ham United) sowie Youngster Malick Thiaw (AC Mailand), die allesamt in der Innenverteidigung agieren können. Ergänzt wird die üppige Auswahl durch Robin Gosens (Inter Mailand), Marius Wolf (BVB), David Raum und Benjamin Henrichs (beide RB Leipzig) - allesamt eher offensiv agierende Außenverteidiger. 

BVB-Star "lässt noch einiges liegen"

Dass gleich zwei seiner Teamkollegen dabei sind, dürfte für Süle ein schwacher Trost sein, zumal Flick seine Ausbootung durchaus zweifelhaft begründete.

"Ich finde, er lässt noch einiges liegen. Ich will, dass er von seiner Einstellung, von seiner Mentalität einen Schritt nach vorne macht", erklärte Flick im Interview der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und ergänzte: Süle könnte "einer der besten Innenverteidiger sein, die es gibt. Sein Potenzial ist riesig".

Außerdem habe ihn Süle beim WM-Debakel in Katar nur zu 90 Prozent überzeugt, für Flick schlicht zu wenig. "Ich finde, jeder Nationalspieler sollte den Anspruch haben, das Maximum aus seinem Potenzial zu machen. Mit weniger durchkommen - das entspricht nicht meiner Mentalität", so der 58-Jährige weiter.

Auf den ersten Blick eine solide, ja anspornende Begründung des Bundestrainers. Bei genauerem Hinsehen wirft diese allerdings selbst dann Fragen auf, wenn man die Nominierung von Thiaw als Vorgriff in die Zukunft einordnet.

Gibt das Potenzial von Thilo Kehrer, der bei West Ham United zwischen Startelf und Bankplatz pendelt, nicht mehr her? Ist Gosens, wie 2022/23 meist bei Inter (bei 32 von 48 Einsätzen eingewechselt), nur ein Joker? Und wie gestaltet sich die Lage bei Klostermann, der in der abgelaufenen Saison zumindest in den großen Spielen bei RB Leipzig nur zu Kurzeinsätzen kam?

Der Eindruck, dass Flick mit unterschiedlichen Maßstäben misst, lässt sich zumindest nicht gänzlich von der Hand weisen.

Süle nach der WM plötzlich außen vor

Auffallend zudem: Die gemeinsame Zeit von Flick und Süle beim FC Bayern, den der Bundestrainer von November 2019 bis Sommer 2021 trainierte, war zwar von vielen gesundheitlichen Problemen des Verteidigers geprägt.

War Süle fit, berief ihn Flick aber meist in die Startformation. Und das nicht selten sogar als Rechtsverteidiger. Alles andere als ein Argument, dass gegen einen Einsatz des gebürtigen Frankfurters in einer Dreierkette spricht.

Offen ist derweil auch, wie Flicks erneute Demission Süles im restlichen Kader ankommt. Als der Dortmunder im März neben einigen anderen Stars bereits fehlte, zeigte sich Mittelfeldstar Joshua Kimmich im Gespräch mit der "tz" sichtlich überrascht. Schlotterbeck betonte noch Ende März im "kicker", Rüdiger und Süle stünden in der DFB-Hierarchie "zu Recht noch einen Tick vor" ihm.

Auf der anderen Seite wurden in der Vergangenheit nicht viele Nationalspieler so sehr wie Süle von Flick mit Komplimenten überhäuft. Als der Abwehrspieler zum BVB wechselte, hob Flick einmal mehr dessen "enorme Qualität" hervor und erklärte, er sehe in Süle eine Baustein der Zukunft der DFB-Auswahl. 

Bis zur enttäuschenden WM schien das auch zu stimmen: War er fit, berief Flick Süle in 13 von 15 Spielen in die Startelf, bei der WM verpasste er zudem keine Minute - seitdem wartet Süle vergeblich auf eine Nominierung. 

Die DFB-Elf tritt nach dem 1000. Länderspiel ihrer Geschichte gegen die Ukraine vier Tage später zum Test in Warschau gegen Polen an. Das letzte Länderspiel des Dreierpacks findet am 16. Juni in Gelsenkirchen gegen Kolumbien statt.

Marc Affeldt