19.07.2015 10:28 Uhr

'Mathe-Fußball': Die Methode Midtjylland

Erfolgreich durch Mathematik: die Spieler des FC Midtjylland
Erfolgreich durch Mathematik: die Spieler des FC Midtjylland

Klubs wie der dänische Überraschungsmeister FC Midtjylland setzen auf wissenschaftliche Statistiken und komplizierte mathematische Algorithmen, um den sportlichen Erfolg berechenbarer zu machen. Die Methodik stammt ursprünglich aus dem Baseball – und könnte nach Vorstellung ihrer Vertreter den europäischen Fußball revolutionieren.

Karl-Heinz Rummenigge war stinksauer. Soeben hatten sich die haushoch favorisierten Bayern im UEFA-Pokal-Gruppenspiel 2007/2008 gegen die Bolton Wanderers zu einem 2:2 gerumpelt und damit die vorzeitige Qualifikation für die K.o.-Runde vergeigt.

"Fußball ist keine Mathematik", fauchte der Vorstandsvorsitzende ins TV-Mikrofon – eine wenig subtile Kritik an Trainer Ottmar Hitzfeld und der in Rummenigges Augen übertriebenen Personalrotation des studierten Mathematikers vor der Partie.

In Deutschland wurde die vielzitierte Aussage des FCB-Bosses berühmt. Abgesehen von der umstrittenen Spitze gegen Erfolgscoach Hitzfeld, hatte in den Augen vieler Traditionalisten wohl selten ein Satz das Wesen der populärsten Sportart der Welt besser auf einen Nenner gebracht.

Midtjylland als Gegenentwurf

Fast acht Jahre sind seitdem vergangen und in der internationalen Fußballszene würde Rummenigges Meinung von damals heute keine ungeteilte Zustimmung ernten. Der Hauptgrund dafür kommt aus der tiefsten Provinz Dänemarks und heißt FC Midtjylland. Im Frühsommer wurde der kleine Klub aus der 48.000-Einwohner-Stadt Herning erstmals in seiner Geschichte Meister.

Vier Punkte betrug am Saisonende der Vorsprung auf den FC Kopenhagen, gar 16 auf Brøndby IF. Obwohl die beiden Konkurrenten aus der Hauptstadt jeweils über einen mehr als doppelt so hohen Etat wie der Underdog verfügen.

Von Waffengleichheit in finanzieller Hinsicht kann also keine Rede sein. Stattdessen baut man beim Emporkömmling auf das, was nach Rummenigge mit Fußball überhaupt nichts zu tun hat: Mathematik.

Untergeordnete Rolle der klassischen Statistiken

Die separate Betrachtung klassischer Fußballstatistiken wie Passquote, Anzahl von Ballaktionen oder Laufleistung einzelner Akteure spielen in der Spielanalyse der Dänen keine zentrale Rolle. Das Bauchgefühl der Verantwortlichen sowieso nicht.

Stattdessen werden nach Vorbild der 'Sabermetrics'-Methodik aus dem Baseball zahlreiche Werte mit Hilfe von Algorithmen in Beziehung zueinander gesetzt. Das macht eine kombinierte Betrachtung von Taktik, Technik, Physis und Psyche auf wissenschaftlicher Basis möglich.

Die Vereinsführung von Midtjylland beurteilt die Performance ihrer Angestellten dann nach sogenannten Key Performance Indicators. "Wir glauben, dass diese langfristig ein besserer Erfolgsindikator sind", sagt der Vorstandsvorsitzende Ramsus Ankersen im Gespräch mit dem englischen "Guardian".

KPIs bestimmen nahezu alles

Konkret erläutern, wie die entscheidenden Parameter aufgebaut sind, wollen Midtjyllands Macher nicht. Sie haben Angst, dass jemand ihr Betriebsgeheimnis kopieren könnte.

Klar ist: Die KPIs geben Zielwerte vor, die Trainer und Spieler erreichen müssen, um die sportliche Maximalausbeute des Teams zu ermöglichen. Die Indikatoren bestimmen praktisch den gesamten Arbeitsalltag der Mannschaft inklusive Trainingssteuerung, Aufstellung, Spieltaktik, Wechsel und sogar der Halbzeitansprache in der Kabine.

Selbstverständlich werden auch potentielle Neuzugänge nach KPI-Vorgaben gescoutet. "Auf dem Transfermarkt regiert Ineffizienz. Wir wollen ihn auf intelligentere Art und Weise nutzen", sagt Ankersen.

Im letzten Sommer holte Midtjylland beispielsweise den Finnen Tim Sparv von Greuther Fürth. Der defensive Mittelfeldspieler war in der 2. Bundesliga zwar unterdurchschnittlich in Bezug auf für seine Position vermeintlich wichtige Kennzahlen wie gewonnene Zweikämpfe und eroberte Bälle, avancierte aber trotzdem zu einem der besten Akteure der dänischen Liga.

Zahlen als "heiliger Gral"

Vordenker für Ankersen und seine Mitstreiter bei Midtjylland ist Klubeigner Matthew Benham. Der 46-Jährige arbeitet hart an seinem Ruf als Europas Fußball-Revoluzzer Nummer eins. "Zahlen sind für mich der Heilige Gral", erklärt Benham der "Welt". "Wenn es darum geht, im Klub eine Entscheidung zu treffen, vertraue ich immer den Zahlen. Sie lügen nicht."

Mit einem ausgeklügelten Berechnungsmodell für die Wahrscheinlichkeit von Spielausgängen machte der Engländer Millionen am Sportwettenmarkt. Einen Teil des gescheffelten Vermögens investiert er nun in seine Vision vom mathematisierten Spiel und das Ziel, den Einfluss des Zufalls im Fußball weitgehend auszuschalten.

Keine Rücksicht auf Verluste

Neben Midtjylland gehört Benham seit 2012 auch der englische Zweitligist FC Brentford. Dependancen in Spanien oder Deutschland könnten folgen. Gesteuert wird das Ganze aus einer Londoner Schaltzentrale, in der hunderte Experten fast rund um die Uhr Statistiken auswerten, sie durch Datenbanken laufen lassen und die Ergebnisse als Handlungsanweisung an die Klubs weiterleiten.

Dieses Vorgehen und die Radikalität von Benhams Ansatz gefällt nicht allen Beteiligten. Midtjyllands Meister-Coach Glen Riddersholm musste Anfang der Woche trotz des historischen Triumphs in der Vorsaison seinen Hut nehmen. Angeblich, weil er sich nicht mehr zu hundert Prozent mit den rein auf Zahlen basierenden Vorgaben von oben und dem "Mathe-Fußball" seines Klubs identifizieren konnte.

Mehr dazu:
>> Midtjyllands Transfers 2015/16
>> alle Meister in Dänemark

Tobias Knoop