04.07.2019 12:00 Uhr

Vor 65 Jahren: Wunde(r) von Bern

Werner Kohlmeyer (r.) während des WM-Finales 1954
Werner Kohlmeyer (r.) während des WM-Finales 1954

Der Titelgewinn bei der WM am 4. Juli 1954 gilt als größte Überraschung der deutschen Fußballgeschichte. Aufregend, dramatisch und tragisch waren die Tage vor, während und nach der WM derweil auch für die Ungarn. Dort ging das Finale allerdings nicht als Wunder, sondern vielmehr als Wunde von Bern in die Geschichte ein. 

Als der Österreicher Ernst Melchior am 14. Mai 1950 den 5:3-Siegtreffer gegen Ungarn erzielte, ahnte noch niemand, dass er soeben eine neue Ära eingeläutet hatte. Eine Ära, die von einer noch nie dagewesenen Dominanz geprägt wurde.

Allerdings bestimmte nicht die Elf der Alpenrepublik fortan den Takt im Weltfußball. Es waren die Ungarn, die zu einem Siegeszug sondergleichen ansetzten.

Von jenem lauen Frühlingstag im Mai bis zum 4. Juli 1954 versetzten die "magischen Magyaren" um Kapitän Férenc Puskás die Fußballwelt in Entzücken. 32 Pflichtspiele in Folge blieben sie ungeschlagen.

Während dieser Zeit wurde Ungarn Olympiasieger, gewann den "Coupe Internationale européenne" und galt als beste Mannschaft der Welt.

Historischer Moment in Wembley

Letzte Restzweifel an ihrer Vormachtstellung liquidierten die Ungarn am 25. November 1953. Als erstes europäisches Team bezwangen sie England im heimischen Wembley-Stadion. Nach dem spektakulären 6:3-Triumph gegen ratlose Three Lions schien ein Sieg bei der Fußball-WM 1954 unumgänglich.

Vittorio Pozzo, Trainer der italienischen Weltmeistermannschaft von 1934 und 1938, vertrat die Meinung, man brauche das Turnier 1954 erst gar nicht austragen, da der Titelträger bereits feststünde.

Die "magischen Magyaren", die einzigartige "Puskás-Elf" oder einfach nur die "Aranycsapat" (die "Goldene Elf") war in aller Munde.

Ungarn überrollt DFB-Auswahl

Auch bei den Ungarn herrschte ungebrochener Optimismus. Man verfügte über die technisch stärksten Spieler und hatte das revolutionäre 4-2-4-System perfektioniert.

Das überdeutliche 7:1 im Revanchespiel gegen die Engländer befeuerte das unbändige Selbstvertrauen vor der WM-Endrunde in der Schweiz zusätzlich. Und dort knüpften sie zunächst auch nahtlos an ihre Glanzleistungen an.

In der Vorrunde gewährten die Offensivkünstler von Honved Budapest ihren Kontrahenten aus Südkorea und der deutschen B-Elf keine Chance. Der Dortmunder Torwart Heinrich Kwiatkowski resümierte nach der 3:8-Klatsche: "Dann fielen die Tore so wie die Regentropfen. Zum Schluss hab ich nur noch gebetet: Lieber Gott, lass es nicht zweistellig werden."

Müde Magyaren

Im Viertelfinale trafen die Ungarn auf den amtierenden Vize-Weltmeister aus Brasilien. Sie fegten die südamerikanischen Ballartisten in einer kraftraubenden, 90-minütigen Schlacht mit 4:2 vom Platz und zogen in die Vorschlussrunde ein. Das anschließende Halbfinale gegen Uruguay (4:2 n.V.) kostete abermals viele Körner. Und nicht nur das.

Die Partie dauert so lange, dass die "Goldene Elf" den letzten Bus zu ihrem Quartier in Solothurn verpasste. Erst nachdem man einige private PKWs organisieren konnte, erreichten die völlig erschöpften Magyaren ihr Hotel.

Statt in den Betten Ruhe und Erholung zu finden, hielt ein rauschendes Fest die Kicker auf Trab. Direkt vor der ungarischen Unterkunft ließen die Einwohner der Barockstadt die Nacht zum Tag werden. Erst in den frühen Morgenstunden gelang es den angeschlagenen Stars, den dringend benötigten Schlaf zu finden.

"Lästige Angelegenheit" wird zum Desaster

Vier Tage später stieg im Schweizer Sommerregen das Endspiel im Berner Wankdorf-Stadion gegen die deutsche Auswahl. In der ungarischen Botschaft traf man bereits Vorkehrungen für den Empfang der Sieger, Denkmäler wurden geplant und die eigene Regierung betrachtete das Finale als "lästige Angelegenheit", die man nur noch hinter sich bringen musste.

Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte. Rahn kam, Rahn schoss, Rahn traf. Deutschland war Weltmeister, Deutschland hatte die Unbezwingbaren bezwungen. Während sich die ganze Republik in den Armen lag, stand die ungarische Bevölkerung unter Schock. Ihre Helden hatten sie bitterböse enttäuscht. Und dafür sollten sie zur Rechenschaft gezogen werden.

Das Regime strich den bevorzugten Stars sofort jegliche Privilegien und drohte mit Konsequenzen, sollte man den "Fehler" in vier Jahren nicht ausbügeln. Torwart Grosics wurde unterstellt, er habe sich an den Westen verkauft und absichtlich nicht gehalten. Der "schwarze Panther" wurde 13 Monate lang vom Geheimdienst überwacht und musste sich regelmäßig bei den Behörden melden.

Obwohl die "magischen Magyaren" nach dem Finale eine neue Serie starteten und bis 1956 ungeschlagen blieben, sollte ihnen der Gewinn einer Weltmeisterschaft verwehrt bleiben. Nach der Zerschlagung des Volksaufstandes von 1956 zerfiel auch die "Goldene Elf".

Viele Stars, darunter Puskás und Kocsis, emigrierten und hinterließen eine Fußballnation, die nie wieder an die Erfolge der Vergangenheit anknüpfen und die Wunde von Bern schließen konnte.

Marc Affeldt