30.06.2018 08:44 Uhr

1994: Die zwei Leben des Romário

Romário erzielt gegen die Niederlande eines seiner fünf Tore bei der WM 1994
Romário erzielt gegen die Niederlande eines seiner fünf Tore bei der WM 1994

Alle vier Jahre wird bei WM-Endrunden Geschichte geschrieben. Während der Weltmeisterschaft in Russland erinnert weltfussball an kuriose Ereignisse und unvergessene Momente. Heute: Die zwei Leben des Romário.

Seine Chancen standen wohl eher schlecht. Nur 1,8 kg Geburtsgewicht und Atemnot sind schließlich nicht die besten Voraussetzungen für den Start ins Leben. Doch der kleine Bursche namens Romário de Souza Faria, der am 29. Januar 1966 in einer der Favelas von Rio de Janeiro das Licht dieser Welt erblickte, hatte Glück. Genau 28 Jahre und 169 Tage später sollte es das Glück ganz Brasiliens werden.

An jenem 17. Juli 1994 dürfte ein großer Teil der weit über 90.000 Zuschauer im Glutofen Rose Bowl Stadium einfach nur noch froh gewesen sein, dass endlich eine Entscheidung fallen würde. Die vorangengangenen 120 torlosen Minuten waren ein heißer Anwärter auf den Titel des langweiligsten WM-Finales aller Zeiten.

Das Duell zwischen den jeweils dreimaligen Weltmeistern Brasilien und Italien musste also vom Punkt entschieden werden – und die Seleção entschied es für sich. Zum ersten Mal nach 24 langen Jahren versank Brasilien wieder im Taumel eines WM-Triumphs.

"Wenn Gott und Romário es wollen"

Weder in Brasilien noch im Rest der Welt herrschte nach dem Schlusspfiff auch nur der geringste Zweifel daran, wem dieser Titel in hohem Maße zu verdanken sei: Romário. Fünf Tore und drei Vorlagen im Turnier gingen seinem im finalen Shootout verwandelten Elfmeter voraus. Der nur 1,69m große "Baixinho" (der Kurze) stach um Längen heraus aus einer ziemlich prosaisch auftretenen Seleção.

Dabei war Brasiliens Trainer Carlos Alberto Parreira zuvor nicht gerade ein Freund des kleinen Stürmers. In den ersten sieben Partien der Qualifikaton für die Endrunde in den USA wurde er nach diversen Eskapaden und Differenzen zuvor komplett ignoriert. Erst auf Druck der Öffentlichkeit kam er im entscheidenden Qualifikationsspiel gegen Uruguay zum Zug. Ergebnis: Romário erzielte beide Tore beim 2:0-Sieg im vollbesetzten Maracanã und Parreira erklärte daraufhin: "Wir werden Weltmeister, wenn Gott und Romário es wollen."

Dass er später zum besten Spieler des Turniers wie auch zum Weltfußballer 1994 gewählt wurde, war dann mit einiger Gewissheit weniger der Wille Gottes als vielmehr die logische Konsequenz seiner Auftritte in diesem Jahr.

Konsequenz ist indes eine Eigenschaft, die mit dem Fußballer Romário nicht in Verbindung zu bringen war. Es sei denn, man zielt auf allein zwei Dinge ab: Tore und Skandale. Die Zahlen belegen seine Klasse: Mit PSV Eindhoven gewann er zwischen 1988 und 1993 drei Meistertitel und traf in 110 Spielen 99 Mal. Beim FC Barcelona ließ er in den beiden folgenden Jahren 34 Treffer in 56 Spielen folgen, zwei Meistertitel und eine Torjägerkrone in der Primera División inklusive.

Feuerwerk zum 1000. Tor

Etliche Jahre später, am 20. Mai 2007, während seines vierten Engagements bei Vasco da Gama, sollte das für ihn persönlich wohl wichtigste Tor folgen: Gegen Recife trat der mittlerweile 41-Jährige in der 48. Minute zum Strafstoß an, traf und betrat einen erlauchten Kreis um Pelé und Gerd Müller. Es war das 1000. Tor in seiner Karriere - zumindest nach Romários ganz persönlicher Zählung, in der großzügig auch 98 Treffer aus Jugendtagen oder Benefizspielen zählen.

Er nimmt es übel, wenn man diese 1000 in Frage stellt. Aber da dürfte er nicht der einzige sein. Nach seinem Jubiläumstor stiegen in den Favelas von Rio Feuerwerkskörper in die Luft, das Spiel wurde fast 20 Minuten unterbrochen, Romário drehte unter Tränen und umringt von Menschentrauben eine Ehrenrunde.

Doch sprechen die 902 von der FIFA anerkannten Tore eine andere Sprache? Sicher nicht – und schon gar nicht für Johann Cruyff, Trainer von Romário beim FC Barcelona, der ihn zu Lebzeiten stets als "den besten Spieler, den ich je trainiert habe" betitelt hatte.

Dabei betonte Cruyff damals wohl wissend, dass es Technik und Talent waren, die den kleinen Stürmer vom Zuckerhut auszeichneten. Fleiß und Arbeit können es schließlich auch nicht gewesen sein. Denn ebenso legendär wie Romários Trefferquote war sein Faible für Faulheit, Eskapaden und Extravaganzen aller Art. Er feierte in Dauerschleife Partys, war notorisch unpünktlich – wenn er Trainingseinheiten (nur "Kalorienverschwendung!") nicht gleich ganz schwänzte -, er flog aus Mannschaften, sagte der Seleção ab, weil er lieber Urlaub machen wollte, er zettelte Schlägereien an, bespuckte als Jugendlicher Passanten, ließ sich gerne per Hubschrauber zum Training einfliegen, spielte Fußball mit einem Drogenboss, war in Steuerskandale verstrickt, landete kurzzeitig hinter Gittern und wurde 2007 des Dopings verdächtigt. Die Liste der Anekdoten ist schier endlos.

Das zweite Leben des Romário

2005 war – nachdem er in den 18 Jahren zuvor auch hier nicht nur Parreira, sondern so gut wie jeden anderen Trainer zur Verzweiflung gebracht hatte - in der Nationalmannschaft endgültig Schluss. Bei seinem Abschiedsspiel gegen Guatemala traf er in der 17. Minute zum 2:0, riss sich das gelbe Trikot vom Leib und präsentierte der Welt eine Botschaft, die jedoch ebenso plötzlich wie überraschend einen ganz anderen Romário zeigte: "Ich hab ein kleines Mädchen, das hat das Downsyndrom und ist eine Prinzessin."

Die kleine Prinzessin heißt Ivy und es scheint heute so, dass sie Romário den Weg in sein zweites Leben gewiesen hat. Ein ernsteres Leben, in dem die einstige Skandalnudel zwar immer noch kein Blatt vor den Mund nimmt, aber Verantwortung für andere übernimmt. 2013 fasste er gegenüber einem Journalisten der "Zeit" den Sinneswandel in Worte: "Es ist wichtig, Dinge zu geben, ohne zu erwarten, dass man etwas zurückbekommt. Ich habe früher sehr viel falsch gemacht".

Lars Plantholt