11.08.2015 12:43 Uhr

Bielsa: Flucht vom sinkenden Schiff?

Marcelo Bielsa hat OM überraschend den Rücken gekehrt
Marcelo Bielsa hat OM überraschend den Rücken gekehrt

Ein Verein im Schockzustand: Nach dem ersten Spieltag steht der renommierte Ligue-1-Klub Olympique Marseille plötzlich ohne Trainer da. Ganz Frankreich rätselt über die Beweggründe des Argentiniers Marcelo Bielsa, der am Wochenende seinen Rücktritt erklärt hatte. Ein neuerlicher Tiefschlag für den ins Wanken geratenen Fußballriesen OM.

Es hätte alles so schön werden können. Als am Samstagabend im Vélodrome endlich der ersehnte Anpfiff ertönte, waren mehr als 60.000 Fans in freudiger Erwartung auf die neue Saison in Frankreichs höchster Spielklasse. Olympique Marseille, einer der beliebtesten Vereine des Landes, empfing den Abstiegskandidaten SM Caen im heimischen Hexenkessel. Kaum jemand schien zu Beginn am Auftaktsieg der Blau-Weißen zu zweifeln – und das, obwohl ein erzwungener Kaderumbruch den Sommer über für Misstöne gesorgt hatte. 90 Minuten Vollgasfußball sollten die Angst vor dem Absturz bereits im Keim ersticken. Nur drei Stunden später war die Stimmung im OM-Lager allerdings am Tiefpunkt.

Als hätte nicht schon gereicht, dass der letztjährige Vierte der Ligue 1 nach enttäuschender Vorstellung gegen Caen mit 0:1 den Kürzeren zog, verkündete der exzentrische Chefcoach Marcelo Bielsa auf der anschließenden Pressekonferenz überraschend seinen sofortigen Abschied aus der südfranzösischen Hafenstadt. Eine Entscheidung, die nicht nur wegen ihres fragwürdigen Zeitpunkts für viel Zündstoff sorgt.

"El Loco" in Höchstform

"Ich habe meine Arbeit getan, ich kehre in mein Land zurück", gab der 60-Jährige kurz und bündig zu Protokoll. Zunächst hatte der in seiner Heimat als "El Loco" ("der Verrückte") bekannte Bielsa noch sämtliche Fragen der Journalisten zur schmerzhaften Auftaktniederlage beantwortet, dann aber quasi aus dem Nichts das Thema gewechselt: "Ich habe aus Respekt vor dem Spiel erst ihre Fragen dazu beantwortet. Eben vor der Pressekonferenz habe ich dem Präsidenten meine Rücktrittserklärung in Form eines Briefes gegeben", so der Argentinier.

Auch eine Begründung ließ nicht lange auf sich warten: "Nach drei Monaten voller Diskussionen konnte ich andauernde Veränderungen bezüglich meines Vertrages nicht mehr akzeptieren. Deshalb habe ich diese Entscheidung getroffen, denn Zusammenarbeit erfordert ein Minimum an Vertrauen". Knallharte Aussagen, die im Kern darauf hindeuten, dass es hinter den Kulissen beim Meister von 2010 brodelt. Passend dazu erklärte OM-Präsident Vincent Labrune, er könne die Entscheidung nicht nachvollziehen und fühle sich „wie gelähmt nach diesem Schock, der uns in einer schwierigen Situation zurücklässt".

Skepsis nach dem Ausverkauf

Schon Wochen vor der Demission des kauzigen Coaches hatten Labrune und Co. mit empfindlichen Rückschlägen zu kämpfen. Auslaufende Verträge und ein vor der französischen Finanzkommission auszugleichendes Minus von mehr als 30 Millionen Euro zwangen den Club, mit André-Pierre Gignac, Dimitri Payet, André Ayew und Giannelli Imbula gleich vier unumstrittene Leistungsträger abzugeben. Im Gegenzug sollen nun junge Top-Talente wie Lucas Ocampos und Karim Rekik die in allen Mannschaftsteilen entstandenen Lücken schließen. Ein Vorhaben, das angesichts der hohen Belastung durch Liga, Pokal und Europa League für viel Skepsis gesorgt hat.

Neue Hoffnungsträger wurden dringend gesucht. Ursprünglich eine Paradedisziplin von Bielsa, der im Vorjahr in kürzester Zeit aus einem mittelmäßigen Kader ein Top-Team geformt hatte, das mit dem auf modernem Gegenpressing basierenden Stil des Trainergurus monatelang die "Grande Nation" aufgemischt hatte. Mit wahnsinniger Intensität und Laufbereitschaft jagten die OM-Kicker ihre Gegner reihenweise durch die Stadien der Ligue 1 und begeisterten Fans wie Kritiker gleichermaßen. Der Rücktritt des Argentiniers könnte die Ära des High-Speed-Fußballs bei OM nun schneller als gedacht wieder beendet haben.

Wer bringt das Schiff wieder auf Kurs?

In der Hafenmetropole wurden in den vergangenen Tagen sofort Stimmen laut, die das Bild des Kapitäns bedienten, der sprichwörtlich das sinkende Schiff verlässt. Eine wenig wohlwollende Einschätzung der Lage rund um l'Oheme - immerhin zählt der Club trotz des personellen Aderlasses immer noch zum erlauchten Kreis der Champions-League-Anwärter hinter Ligaprimus Paris Saint-Germain. Um tatsächlich in der Spitzengruppe mitmischen zu können, muss nun allerdings schnellstmöglich ein geeigneter Nachfolger für Bielsa her.

Die erste Absage hat sich Marseille allerdings schon eingehandelt. Jürgen Klopp ließ dem Klub ausrichten, für ihn sei der Zeitpunkt noch nicht gekommen, sich bei einem neuen Verein zu versuchen. Kurz nach dem Rücktritt Bielsas kursierten zudem Gerüchte um einen Nachfolger, der dem Argentinier zumindest in Sachen exzentrisches Auftreten nicht nachsteht: Kult-Trainer Miguel Herrera, der unlängst mit Mexiko den Goldcup gewann, dann jedoch nach einer Attacke auf einen Journalisten entlassen wurde, wurde als möglicher Bielsa-Erbe ins Gespräch gebracht.

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Heiko Lütkehus