17.10.2024 11:23 Uhr

Großer Coup, gigantische Träume – Riesengefahr

Thomas Tuchel wird wieder mit Bayern-Star Harry Kane zusammenarbeiten
Thomas Tuchel wird wieder mit Bayern-Star Harry Kane zusammenarbeiten

Es ist nach Oasis das wohl spannendste Comeback Englands: Thomas Tuchel zieht es erneut auf die Insel. Dort befeuert er die unerfüllten Träume der englischen Fußballwelt. Dem Verband gelingt ein Coup - der aber auch eine Gefahr birgt. Ein Kommentar.

Thomas Tuchel und England. Das passt wie die Faust aufs Auge oder besser gesagt: wie Tea Time am Nachmittag in ein warmes Wohnzimmer in London.

Dass der manchmal eigenwillige Schwabe im Mutterland des Fußballs performen kann, hat er schon eindrucksvoll bewiesen. 2021 übernahm er den strauchelnden FC Chelsea und führte ihn anschließend direkt zum Triumph in der Champions League. Viel mehr geht nicht.

Sein Ruf in England ist weiter gut. Auch wenn er die meisten Klubs (BVB, PSG, auch Chelsea) im Unguten verließ und seine Zeit dann doch früher endete als geplant. Jüngstes Beispiel ist der FC Bayern. Dort ist man immer noch so angefressen, dass Ehrenpräsident Uli Hoeneß fünf Monate später mit Verbal-Attacken grüßt.

Jetzt also der neue Anlauf in England.

Die Yellow Press lauert schon

Tuchel kennt sich mit großen Egos und großen Spielern aus. Im englischen Kader ist die Dichte an Talenten wohl so groß wie kaum woanders. Das gilt allerdings auch für die berüchtigte Yellow Press rund um die Themse.

Das birgt so einige Gefahren, wie sich jetzt schon zeigt. Denn das Echo auf den Tuchel-Coup war nicht nur positiv. Die "Daily Mail" brachte sich schon mal ganz ungeniert in Stellung.

Zitat: "England muss bis zum letzten Mann im Trikot englisch sein. Wir brauchen keinen Thomas Tuchel, sondern einen Patrioten, für den das Land an erster, zweiter und dritter Stelle steht … Der Trainer sollte jemand sein, der in der Fußballkultur dieses Landes geboren und aufgewachsen ist, jemand, der mit den besten und schlechtesten Eigenschaften unseres Landes vertraut ist."

Wie das Presseecho nach einer weiteren Niederlage in der Nations League, einem Stolperer hier oder unterdurchschnittlichen Leistungen da ausfallen könnte, dafür braucht es nicht viel Fantasie.

Ausgerechnet ein Deutscher, so was wie der fußballerische Erzfeind Englands (und der Boulevardpresse), trainiert jetzt das größte nationale Heiligtum nach den Royals und Sherlock Holmes. Schon in München war Tuchel aufgrund negativer Presse "not amused".

Die Ziele sind nicht weniger als gigantisch. England lechzt nach einem Titel. Seit 1966 warten sie schon darauf. 2021 und 2024 kassierten die oft seltsam spielenden Three Lions je eine bittere Final-Niederlage. Damit soll nun Schluss sein. Tuchel ist ein Versprechen auf den maximalen Erfolg.

Und der nächstmögliche (nach der Nations League, kleiner Scherz) ist die Weltmeisterschaft in den USA, Kanada und Mexiko. Zugespitzt: Alles andere als der WM-Titel wäre eine Enttäuschung. Das wird vermutlich auch Tuchel wissen. Womöglich reicht sogar nur der Titel oder ein neuer Hurra-Fußball, um danach im Amt zu bleiben.

Kann Tuchel das Offensivmonster von den Ketten befreien?

Denn: Sein Vorgänger Gareth Southgate war ja nicht unerfolgreich. In Turnieren lieferte das Team den Ergebnissen nach gute Vorstellungen (zweimal EM-Finale, einmal WM-Halbfinale). Doch vor allem die Art und Weise, das Auftreten, passten Presse und Fans überhaupt nicht. Die Spiele bei der EM in Deutschland lösten teils Fassungslosigkeit unter den Anhängern aus, so gehemmt und gebremst wirkte das Team mit Offensivmonstern wie Harry Kane, Jude Bellingham oder Phil Foden.

Der ungeliebte Southgate packte im Sommer lieber selbst seine Sachen. Auch Tuchel ist nicht unbedingt ein Menschenfänger. Kein Kloppo, dem die Herzen zufliegen. Das muss er aber auch gar nicht sein. Er muss einfach nur die Löwen von der Leine lassen. Vielleicht wird er bei der kommenden WM dann sogar zum großen Gegenspieler von seinem Bayern-Vorgänger Julian Nagelsmann, der mit dem DFB-Team auch den WM-Titel als Ziel ausgegeben hat. Die Medien werden es lieben.

Harry Kane, den Tuchel in München trainiert, lobte den Coach schon vor der offiziellen Bekanntgabe als "fantastischen Trainer" und "fantastischen Menschen". Diese Lorbeeren werden freilich nur bis zum ersten Spiel reichen. Über allem schwebt die Frage: Kommt der Fußball endlich wieder nach Hause?

Falls er es tatsächlich schaffen sollte, würde sich Tuchel unsterblich machen. 

Viel Zeit wird der Deutsche allerdings nicht haben. Wer ihm Steine in den Weg werfen will, muss wohl Schlange stehen.