21.03.2015 09:00 Uhr

Darmstadt: Im Schatten der Roten Bullen

Der SV Darmstadt 98 ist das Sensationsteam der 2. Liga
Der SV Darmstadt 98 ist das Sensationsteam der 2. Liga

Eigentlich rechneten alle mit einem Durchmarsch von RB Leipzig in die Bundesliga. Wider Erwarten hat sich vor dem Endspurt ein anderer Emporkömmling im Kampf auf einem direkten Aufstiegsplatz ins Oberhaus in Position gebracht, der noch vor eineinhalb Jahren sportlich in die Viertklassigkeit abgestiegen war: Der SV Darmstadt 98. Das Geheimnis hinter dem Dauerhoch? Hessischer Minimalismus.

Bielefeld, 19. Mai 2014, Rückspiel der Relegation zwischen zweiter und dritter Liga: Nachdem die Arminia das Hinspiel in Darmstadt mit 3:1 für sich entscheiden konnte, rechnete kaum jemand mit einem Aufbäumen der Lilien, die noch im Jahr zuvor sportlich den Weg in die Regionalliga hätten antreten müssen. Weil die Kickers aus Offenbach keine neue Lizenz erhalten hatten, waren die Hessen in der 3. Liga verblieben. Eine Spielzeit später sahen sich die Hessen nun also im Vergleich mit den Ostwestfalen vor einer Mammutaufgabe.

Viel hatte sich in der Vorsaison bei Darmstadt geändert, vor allem im Mentalen. Trainer Dirk Schuster formte "ein Team aus Gescheiterten und Verlierern", wie er dem Magazin "11 Freunde" in Anspielung auf die Vergangenheit einiger seiner Spieler sagte. Er schweißte eine Truppe zusammen, die hart und unangenehm zu bespielen sein wollte. Und bei der "jeder einzelne die Chance hatte zu zeigen, dass er besser ist, als die Leute denken."

In Bielefeld gelang das famos: Seine Jungs erkämpften sich die Verlängerung. Und um kurz vor 23 Uhr besiegelte ein Brasilianer "das Wunder von der Alm": Mit seiner Direktabnahme in der 122. Minute schoss Elton da Costa Bielefeld ins Land der Tränen und Darmstadt in die 2. Bundesliga. Nach 21 Jahren waren die Lilien zurück.

Weniger ist manchmal mehr

Das Momentum des unerwarteten Aufstiegs hält bis heute an und könnte zu etwas führen, von dem die tief stapelnden Hessen selber nicht sprechen wollen. Der Hype um die sympathischen Jungs vom Böllenfalltor bricht ebenso wenig ab wie ihr sportlicher Erfolg. Neun Spieltage vor Saisonende steht der SV auf Rang zwei.

16 Partien in Folge sind die Darmstädter unbesiegt. Obwohl die Lizenz für den Fall eines Aufstiegs bereits beantragt wurde, will man auf offizieller Ebene nicht über die 1. Bundesliga sprechen. Im "kicker" beteuert Trainer Schuster, dass man sich in Darmstadt "gegen nichts wehren werde", dennoch sei der Aufstieg "für uns kein Thema." Schwer zu glauben, wenn der einzige Verein, der im deutschen Profifußball weniger Gegentore als die Lilien kassiert hat, FC Bayern München heißt.

Zugegeben: Darmstadts Fußball ist nicht schön und schon gar nicht spektakulär. Er zeichnet sich nicht durch überfallartige Konter oder Tiki-Taka aus. Auch wird der Ball nicht mit dem Außenrist vor das Tor gezwirbelt und Treffer nicht mit Superheldenmasken gefeiert. Die hessische Spielweise macht sich frei von den Showeffekten des modernen Fußballs und ist vor allen Dingen: effizient, schnörkellos, minimalistisch.

Dafür treten sie immer hoch motiviert auf, laufen mehr, investieren viel. "Wenn wir anfangen, schönen Fußball zu spielen, geht das in die Hose.", sagt Schuster. Sein Team lebt diesen Minimalismus. 13 Mal gingen sie bereits ohne Gegentor vom Platz, gewinnen gerne mit einem, zwei Treffern Unterschied. Oft resultieren diese aus gut genutzten Standards.

Der Bulle und die Blume

Mit ihren Tugenden, dem unglamurösen Spielstil und der langen Tradition eines steten Auf und Ab stehen die Lilien im krassen Gegensatz zu Dietrich Mateschitz' Fußballprojekt in Leipzig. Mitaufsteiger RB wurde vor bald sechs Jahren aus dem Boden gestampft. Die Vereins- und Personalpolitik sind den Anhängern deutscher Traditionsvereine ein fortwährender Dorn im Auge. Auch wird den Sachsen immer wieder vorgeworfen, lediglich den Marketingzwecken des Unternehmens zu dienen. In Österreichs Fußball und diversen anderen Sportarten hat der Hersteller des süßen Energydrinks bereits die Federführung übernommen.

Zum Erstaunen vieler Experten finden sich die Leipziger aber momentan mit acht Punkten Rückstand auf Rang drei nicht auf dem von Mateschitz eingeforderten Weg wieder. Einen Trainerwechsel hat es in dieser Spielzeit bereits gegeben. Es besteht wohl kein Zweifel, dass RB zumindest mittelfristig die Ziele des Unternehmens erreichen wird - genug wirtschaftlicher "Spielraum" ist ja vorhanden. Dennoch ist es Balsam für die Seelen der Fans, die die Kommerzialisierung und den Einzug und Einfluss von Wirtschaftsunternehmen und Privatpersonen im Sport anprangern, die scheinbare Übermacht des Geldes eingebremst zu sehen. Zumindest für eine Weile.

Darmstadts Coach bezeichnete sein Team unlängst als "kleines gallisches Dorf", dessen Aufgabe es sei, die anderen zu ärgern. Der 1898 gegründete SV aus Darmstadt hält alle Karten in der Hand, wobei weder finanzielle Kaufkraft noch ein Bundesliga-taugliches Stadion zu Verfügung stehen. Dies, so der Übungsleiter zu "11 Freunde", erweist sich sogar manchmal als Vorteil: "Wenn andere Mannschaften aus ihren Fußballtempeln und Wohlfühloasen zu uns in die Gästekabine kommen, mit den Fliesen von 1950 und vielleicht mal ein bisschen Schimmel an der Decke, dann denken sie: Lass uns irgendwie die 90 Minuten rumbringen und dann schnell wieder weg."

Tradition kann man nicht kaufen

Das Überraschungsteam der Saison feiert den seit Ende Februar gesicherten Klassenerhalt, sie "schauen von Spiel zu Spiel", wie man es seit Wochen in jedem Interview hört. Der verrückten Geschichte der Hessen würde der Bundesligaaufstieg gut zu Gesicht stehen. Auch wenn dafür einige Maßnahmen fällig würden, wie der Umbau des altehrwürdig-charmanten aber zweifelsfrei baufälligen Spielstätte. Der Unterstützung durch die Anhänger können sich die Lilien in jedem Fall gewiss sein. Die Geschichte des SV Darmstadt 98 ist von je her durch Fahrstuhlfahrten und Umbrüche gezeichnet.

In Darmstadt schweigen sie zum Thema Aufstieg weiter. Obwohl dieser mit jeder Partie realistischer wird. Am letzten Spieltag besiegte man Union Berlin zu Hause mit 5:0. Eine geradezu furchterregende Ansage an die Konkurrenz. Hessischer Minimalismus wagt sich auch schon mal aus der Deckung.

Tipp: Auf dem Weg in Liga eins stellt sich Darmstadt 98 am Samstag beim Auswärtsspiel gegen Fortuna Düsseldorf der nächsten schwierigen Aufgabe (ab 13:00 Uhr im weltfussball-Liveticker)

Kevin Brüssel