19.08.2023 10:27 Uhr

Fußballmärchen aus der Provinz: Highspeed-Heidenheim rollt an

Frank Schmidt hat noch einen Vertrag bis 2027 in Heidenheim
Frank Schmidt hat noch einen Vertrag bis 2027 in Heidenheim

Zweitligameister 1. FC Heidenheim ist der 57. Klub in der Bundesliga. Der kleine Verein vom Ende der Schwäbischen Alb ackerte sich mit Trainer Frank Schmidt von der Verbandsliga ins Oberhaus vor und ist der Gegenentwurf zum Gigantismus unserer Zeit. Das Erfolgsrezept ist eigentlich ganz einfach.

"Schaffe, schaffe - Heidenheim". Das klingt nach allertiefster Klischee-Schublade. Aber Trainer Frank Schmidt wird nicht müde, genau diesen Spirit des Bundesliga-Aufsteigers 1. FC Heidenheim zu betonen. Heidenheim, die 50.000-Einwohner-Mittelstadt in Ost-Württemberg, sei eben ein Ort, wo viel gearbeitet wird, sagt Schmidt. Das erkläre der Coach auch den neuen Spielern. Denn genau solchen Fußball will er spielen lassen. "Es ist alles näher, näher dran. Es gibt einen guten Zusammenhalt, man kommt oft ins Gespräch. In vielen Standorten ist das nicht so möglich", erklärte Schmidt in einem RTL/ntv-Interview Anfang Juli. Heidenheim sei kurz gesagt: "Viel Industrie, viel Mittelstand, viel arbeiten, damit es einem gut geht."

Das lässt sich auch auf den Klub übertragen. In Heidenheim wurde viel gearbeitet, dem Team geht es gut. Frank Schmidt und der 1. FC Heidenheim ist eine Erfolgsgeschichte. Eine der wenigen Klub-Trainer-Symbiosen, die es im modernen Fußball noch gibt. Von der fünften in die erste Liga, mit einem genialen Duo, das seit Jahrzehnten zusammenarbeitet, mit ehrlichem Fußball, ohne echte Stars. Wenn man so will, ist dieser Provinzverein von der rauen Ostalb der maximale Gegenentwurf zu den Ronaldos, Messis und gigantischen Saudi-Transferoffensiven.

Das Trainer-Märchen des Frank Schmidt

Seit 16 Jahren ist Schmidt bald Trainer in Heidenheim, der 49-Jährige wurde nur einen Steinwurf vom Stadion entfernt geboren. Seit 20 Jahren ist er nun schon im Verein. Heidenheim bedeutet für ihn Heimat. Als Schmidt anfing, in Heidenheim zu spielen, hieß der Klub sogar noch anders. 2003 (da spielten 1860 München und Hansa Rostock noch in der Bundesliga) kam er im Herbst seiner Karriere als Defensivspieler und Kapitän zum Heidenheimer SB (2007 folgte die Abspaltung der Fußballabteilung und Umbenennung) in die Verbandsliga Baden-Württemberg, damals die fünfte Spielklasse.
Die Idee mit Schmidt als Trainer hatte Holger Sanwald, noch so ein Unikat und Macher direkt aus der Region. Gegen seine Heidenheimer Zeit verblasst sogar Schmidts Tätigkeit ein bisschen. 1994 stieß Sanwald zum Klub. Erst seit 2007 ist er hauptamtlicher Geschäftsführer des Teams. Nach eigener Aussage hat der 56-Jährige schon fast alles selbst gemacht, Fahrten organisiert, Wurst gebraten - und die Weltidee mit Schmidt umgesetzt.

Im September 2007, kurz zuvor war Schmidt zurückgetreten, sollte der Ex-Spieler interimsweise für zwei Spiele übernehmen. Schmidt selbst suchte sogar noch seinen eigenen Nachfolger. Nun, es kam anders. Denn der junge Trainer überzeugte Sanwald mit seiner Art und Ergebnissen. Das erste Spiel endete 2:1, das zweite 9:1. Gute Argumente für einen längeren Vertrag. Was dann passierte, ist Fußball-Geschichte. Über die Regionalliga (2008 bis 2009) ging es in die 3. Liga (von 2009 bis 2014) und die 2. Liga. Der Höhepunkt folgte im Mai 2023: der dramatische Aufstieg in die Bundesliga, samt Zweitliga-Meisterschaft. Möglich gemacht durch zwei Tore in der Nachspielzeit. "Sportlich war es der größte Moment", sagte Schmidt mit ein paar Wochen Abstand. "Ein absolutes Highlight und ganz besonderer Moment."

Abschluss einer nahezu unglaublichen Reise

Der Aufstieg ins Oberhaus ist der vorläufige Abschluss einer nahezu unglaublichen Reise. Heidenheim hatte sich in den vergangenen Jahren als eines der konstantesten Teams in der 2. Liga etabliert, wenn man mal den HSV wegen der doch höheren Ambitionen herausrechnet, immer mit Tuchfühlung zu den Aufstiegsrängen. Die Arbeit zahlte sich mit guten Ergebnissen aus. Wenn es (fast) immer klappt, ist es kein Zufall mehr.

Nun darf man nicht den Fehler machen, die überschaubare Größe Heidenheims damit zu verwechseln, dass der Klub arm oder klamm sei. Der schwäbische Mittelstand hockt in der Region, das lässt sich gut an den Sponsoren des Vereins ablesen. Neben kleinen und mittleren Geldgebern aus der Region, der Pool besteht aus 400, sind auch große Player wie der Maschinenbauer Voith - Namensgeber des Stadions, der IT- und Managementberater MHP oder Medizinproduktehersteller Paul Hartmann AG an Bord.

Das Geld wird in Heidenheim zielgerichtet eingesetzt. Große Transfers sieht man selten, stattdessen unter Schmidt seit Jahren eine klare Leitlinie: Er holt bevorzugt deutsche oder deutschsprachige Kicker, bestenfalls aus der Region, was aber nichts mit fehlender Weltoffenheit zu tun habe, betont der Klub. Schmidt legt Wert darauf, dass die Spieler Deutsch sprechen, damit die Kommunikation im Team bestens funktioniert. Schmidt und Sanwald verpflichteten über die Jahre stets Spieler, die den Heidenheimer Weg mitgehen, heißt: das Team über sich selbst stellen. Es waren und sind vor allem Spieler aus der 2. und 3. Liga mit wenig bekannten Namen - die dann aber trotzdem als Kollektiv funktionieren.

Jahrzehntelang war Marc Schnatterer das Gesicht des Teams. Heidenheimer Urgestein. Rekordspieler. 457 Spiele, 121 Tore. 13 Jahre spielte er für den FCH auf der Ostalb, war der verlängerte Arm von Schmidt und ging den Weg von der Oberliga in die 2. Liga mit. Aber erst zwei Jahre nach seinem Abgang wurde der Bundesliga-Traum dann wahr. Die neuen Säulen im Spiel heißen Tim Kleindienst, der in der vergangenen Saison mit 25 Toren Torschützenkönig der 2. Bundesliga wurde, Kapitän Patrick Mainka oder Schalke-Zugang Marvin Pieringer.

Wieder "spannende Transfers" getätigt

2,3 Millionen Euro gab der Aufsteiger vor Saisonstart für neue Spieler aus. Man habe wieder "spannende Transfers" getätigt, die man in der Bundesliga nicht unbedingt erwarte, sagte Schmidt im SWR. "Aber das ist mir grad egal". Neben Pieringer (1,8 Millionen Euro) kam unter anderem Ex-Spieler und Offensivkraft Nikola Dovedan (Austria Wien/ablösefrei), Benedikt Gimber (Jahn Regensburg/ablösefrei) verstärkt die Defensive. Innenverteidiger Tim Siersleben vom VfL Wolfsburg wurde nach seiner zweijährigen Leihe vom VfL Wolfsburg fest verpflichtet (500.000 Euro).

Der Schmidt-Fußball lässt sich nicht nur an solchen Köpfen, sondern auch in Zahlen ablesen. Denn die Heidenheimer Teams zeichnen sich fast immer in Kategorien wie gelaufene Kilometer oder Sprints aus. In der Saison 2022/23 liest sich das exemplarisch so: Platz 2 bei den "Flanken aus dem Spiel", Platz 1 für "gewonnene Kopfballduelle". Platz 1 bei der "Laufdistanz". Mit weitem Abstand: Platz 1 bei den Sprints und intensiven Läufen. Es ist eben nicht nur Klischee: Fußball wird in Heidenheim tatsächlich gearbeitet, "gschafft", wie man im Schwäbischen sagt. Tempofußball in beiden Richtungen mit schnellem Umschalten. Fitness als Basis hat bei Schmidt einen hohen Stellenwert, da akzeptiere er auch wenig "Jammern".

Dafür braucht Schmidt gewisse Spielertypen. Im Kader seien nur Spieler, die sich aus "voller Überzeugung" für Heidenheim entschieden haben und "sich nicht wichtiger nehmen, als sie sind". Der 1. FC Heidenheim ist ein Team, das nicht so schnell aufgibt und bis zum Umfallen kämpft. Da fällt einem gleich das 3:2 am letzten Spieltag ein, das dem FCH den Aufstieg in letzter Sekunde bescherte und den HSV ins Tal der Tränen stürzte. Ein Abbild der vergangenen Saison oder vielleicht der gesamten Heidenheimer Reise der letzten 15 Jahre war aber schon das Hinspiel gegen Regensburg im heimischen Stadion am 17. Spieltag. Heidenheim führte 1:0, dann 3:1, später 4:3, um kurz vor Schluss den 4:4-Ausgleich zu kassieren. In der vierten Minute der Nachspielzeit köpfte Stefan Schimmer die Heidenheimer dann zum 5:4-Sieg. Ein gewaltiger Kraftakt mit Happyend. Im deutschen Fußball ist gerne von Mentalität die Rede. In Heidenheim wird sie von den Stehaufmännern gelebt.

"Den Moment genießen, die Gegenwart leben"

Schmidt hat das Potenzial zum "Kult-Trainer", wie das dann heute schnell heißt. Nun wird es nicht ganz zu Christian Streich reichen, dafür fehlen dann vielleicht die ganz großen Emotionen oder das philosophische Abdriften. Wobei Schmidt auch hier klare Messages ausrufen kann. Nach einer Thrombose in der Wade musste er 2018 ins Krankenhaus, schwebte offenbar sogar in Lebensgefahr. Eine Erfahrung, die ihn verändert hat. Es sei eben wie so oft im Leben, wenn man "geblitzt" wird, sagte Schmidt im RTL/ntv-Interview im Juli. "In den ersten Wochen und Monaten achtet man sehr genau auf viele Dinge, man lebt bewusster. Man schaut mehr nach links und rechts. Egal ob Fußballtrainer, normal im Berufsleben, jede Minute, jede Sekunde kann sich etwas im Leben verändern. Man muss den Moment genießen, die Gegenwart leben."

In seiner täglichen Arbeit wechselt er zwischen klaren Ansagen, zwischen harter Hund/Hand und Kumpelei. Früher habe er mehr geschrien, erklärter er im SWR. Nach eigener Aussage sei er durchaus ein "Alphatier". Jemand, der gerne Entscheidungen trifft. "Ich bin direkt in der Ansprache, ehrlich und ungefiltert." Er formt daher das Team nach seinen Vorstellungen, es funktioniert aber auch nur, wenn die Spieler folgen. "Mit ihm kann man über alles reden", sagt Linksaußen Jan-Niklas Beste. Menschenbezogen sei er ein "super Typ". "Wenn es drauf ankommt, wird er auch lauter. Das gehört dazu. Er macht's genau richtig. Er findet die passenden Worte, den richtigen Weg." Rückkehrer Nikola Dovedan bringt es auf den Punkt: Es sei "ganz einfach" mit Schmidt: "Gas geben, korrekt sein, dann bekommt man von Frank alles, was man will."

"Nach neun Jahren 2. Liga wird's eine Herausforderung"

Bislang musste Schmidt mehr Erfolg denn Misserfolg managen. Das Ziel für die kommende Saison ist klar definiert: Klassenerhalt. "Nach neun Jahren 2. Liga wird's eine Herausforderung", sagte Schmidt zum Trainingsauftakt gegenüber RTL/ntv. "Alle Dinge im Leben sind schwer, bevor sie einfach werden. Wir haben wenige Spieler, die Bundesliga gespielt haben, ich war auch noch kein Trainer in der Bundesliga. Wir werden viel lernen und auch leiden müssen. Wir wollen wie ein Hamster vor dem Winter fleißig Punkte sammeln."

Die Generalprobe für die Bundesliga (Auftakt am Samstag, 15:30 Uhr gegen den VfL Wolfsburg) ist schon mal geglückt. In der ersten Runde des DFB-Pokals nahmen die Heidenheimer die Hürde Rostocker FC ohne Probleme (8:0). Nach einer Viertelstunde war gegen den überforderten Oberligisten schon alles klar. In den kommenden Wochen werden die Aufgaben deutlich anspruchsvoller. Wohin der Weg auch führen kann, zeigt das Beispiel Freiburg: Den Klub aus dem Breisgau nennt Schmidt als Vorbild, auch wenn dieser ein, zwei Jahrzehnte voraus sei. In gewisser Weise hat der SCF den Weg für Heidenheim geebnet. Mit relativ bescheidenen Mitteln hat der Sportclub oft sehr viel erreicht, inzwischen sind sie Dauergast in Europa. Auch im Falle eines Misserfolges hielten sie in Südbaden am Trainer fest, bildeten eine Einheit aus Fans und Umgebung.

Schmidts Vertrag läuft bis 2027. Was danach passiert, darüber will er noch nicht reden oder denken, sagt er. "Ich gehe in meine 17. Saison, ich freue mich darauf. Ich habe genügend Energie tanken können im Urlaub. Ich freue mich auf neue Aufgaben, zu weit in die Zukunft schauen, macht keinen Sinn. Bis dahin wird weiter fleißig "gschafft" in Heidenheim, das ist sicher. So wie auch im Trainingslager gegen den saudi-arabischen Klub Al-Ahli. Das Testspiel gegen das Team aus dem Golfstaat um Superstar Roberto Firmino und Co. gewann der FCH mit 6:2. Schmidt haderte mit dem nassen Rasen (Starkregen) und dem Gegner: "Insbesondere aber die Qualität des Gegners war nicht das, was wir als Herausforderung im Trainingslager brauchen."

Emmanuel Schneider