22.09.2023 17:51 Uhr

Wie Guirassy den VfB Stuttgart wieder träumen lässt

Serhou Guirassy vom VfB Stuttgart in Jubelpose
Serhou Guirassy vom VfB Stuttgart in Jubelpose

Der VfB Stuttgart ist zum Saisonstart eine der großen Überraschungen in der Bundesliga (Platz vier in der Tabelle). Den größten Anteil daran hat Tor-Gigant Serhou Guirassy. Er lässt die VfB-Fans wieder träumen. 

Der Ball kommt von der linken Seite, scharf in den Sechzehner hineingespielt. Serhou Guirassy steht circa drei Meter frei vor dem leeren Tor. Das muss es sein, Stürmer-Alltag. Bereitmachen zum Jubeln. Denkste. Der Stürmer erwischt den Ball völlig falsch, weit drüber. Lachnummer. Hohn. Spott. 

Heute kaum vorstellbar, aber Serhou Guirassy wurde mit dieser Szene zu einer Art Symbolbild für die gruselige Saison des 1. FC Köln 2016/17. Jener Krisengipfel am 9. Spieltag gegen Werder Bremen endete 0:0, am Ende stiegen die Kölner ab. Guirassy, der zuvor auch Europa League mit dem "Effzeh" gespielt hatte, ging den Schritt mit, setzte sich aber auch in der kommenden Spielzeit nicht durch. Später wechselte er zurück nach Frankreich. 

Es war die Zeit, bevor sich Guirassy zum alles verschlingenden Tor-Monster der Bundesliga entwickelt hatte. Mit Rückschlägen kennt sich der 27-Jährige aber aus. Bei einigen Vereinen war er nicht erste Wahl, zum Beispiel bei seiner Station vor dem VfB Stuttgart in Rennes. Als Kind setzte er mal ein Jahr aus, wollte aufhören. Der Drang zu spielen war aber größer. Und der ist auch heute noch bei Guirassy erkennbar. 

Der beste VfB-Stürmer seit langer Zeit

Auf solch einen Knipser haben sie in Stuttgart lange gewartet. Sehr lange. Guirassy ist der beste Stürmer in VfB-Reihen seit Jahren, womöglich seit der ersten Ära von Mario Gomez (oder ist Guirassy gerade sogar noch besser?).

Und wer die Tore macht, braucht für die Spitznamen sowieso nicht zu sorgen.

Goalrassy, Guirassiert, Gierassy. You name it. Das VfB-affine Netz drehte spätestes am vergangenen Samstag völlig durch. Denn Guirassy machte gegen Mainz (3:1) einmal mehr, was er wollte, vor allem mit seinen Gegenspielern. Nach dem 2:1 schaute Mainzer Keeper Robin Zentner völlig perplex drein. Da hatte Guirassy ihn nach einem Haken mit einem satten Linksschuss überwunden. Das Spiel gegen Mainz war ohnehin eine Art Best of der Guirassy-Skills.

Es ist beeindruckend, wie der Mittelstürmer in dieser Saison seine Treffer erzielt. Er traf außerhalb des Sechzehners, innerhalb sowieso, per Solo, nach schönem Schlenker, mit Technik und Ballgefühl und per Kopf. Kurzum: Er ist derzeit nicht zu stoppen und besticht durch absolute Kaltschnäuzigkeit und Killer-Instinkt.

"Die Quote ist geisteskrank. Mit was für einer Lässigkeit er die Dinger reinmacht. Er ist einfach eiskalt und hat Spaß", sagte Teamkollege Deniz Undav. "Ich denke, ich bin in der Form meines Lebens. Ich hoffe, dass das so weitergeht", ergänzte der Torschütze. 


Das Tempo, das Guirassy derzeit anschlägt, ist atemberaubend. Er traf zum Auftakt im Pokal gegen Balingen und legte einen Treffer auf. Dann erzielte er zwei Tore gegen Bochum, eins gegen Leipzig, zwei gegen Freiburg und dann schnürte er den Dreierpack beim FSV Mainz. 

Guirassy macht pro Spiel im Schnitt zwei Tore, acht sind es nach den ersten vier Spielen. Nur einer in der Bundesliga-Geschichte war bislang besser. Peter Mayer traf 1967/68 für Gladbach sogar neun Mal. Rechnet man den Guirassy-Wert dreist hoch, dann hätte er nach acht Spieltagen schon die Marke von Niclas Füllkrug aus dem Vorjahr (16) eingestellt und am Ende der Saison 68 Tore. Damit wäre der VfB wohl mindestens Champions-League-Teilnehmer und der Stürmer nicht nur in Stuttgart unsterblich.

Nun ist Fußball nicht ganz so einfach und die Serie von Guirassy wird sicher irgendwann reißen. Und der VfB wohl aller Voraussicht nach nicht in den Top 6 stehen. 

Dennoch sorgt er gerade fast im Alleingang für gewaltige Aufbruchstimmung im Ländle. In diesem Klub, in dem oft mehr Potential und Hoffnung als tatsächliche Schaffenskraft herrschte. Seit Jahren dürsten die Fans nach einer ruhigen Saison im Mittelfeld. Meist sah die Realität so aus: Abstiegskampf bis zum Schluss. Zweimal stieg der VfB in vergangen sieben Jahren ab. Im Juni sicherte sich der Klub erst in der Relegation gegen den HSV den Klassenerhalt (auch Guirassy traf im Hinspiel). Jetzt ist die Hoffnung wohl mindestens so groß wie das Riesenrad auf dem startenden Cannstatter Wasen neben dem Stadion.

In dieser Saison sieht es besser aus, weil dem VfB mit drei Siegen der beste Saisonstart seit 2004 gelungen ist. Die Schwaben spektakeln sich zu einem der frühen Überraschungsteams der Liga. Fußball-Rock'n'-Roll in Stuttgart. 14 Buden in vier Spielen. Den Bärenanteil hat Guirassy. 

Dabei hat der VfB eigentlich wichtige Leistungsträger verloren. Kapitän Wataru Endo ging von Bord (Liverpool), Defensiv-Anker Konstantinos Mavropanos wechselte zu West Ham United, Linksfuß Borna Sosa zog es zu Ajax - alles wichtige Stützen. Doch die Tore von Guirassy gleichen das momentan mehr als aus.

Im Sommer drohte der Abgang

Ein Glück für den VfB, dass der Nationalspieler Guineas nicht selbst im Sommer gegangen ist. Für einige Tage und Wochen stand die sportliche Zukunft des Stürmers beim VfB auf der Kippe.

Sein neuer Vertrag, zuvor war er von Stade Rennes nur ausgeliehen, beinhaltete eine Ausstiegsklausel. Dank dieser hätte er bis Mitte August zu einem relativ günstigen Preis Stuttgart verlassen können. Deswegen klopfte Ajax Amsterdam um Ex-Sportdirektor Sven Mislintat und ein Premier-League-Trio an. Doch Guirassy lehnte die Offerten aus dem Ausland ab, obwohl er von der Premier League träumt. Hauptgründe: Er ist gierig auf Spielzeit – und fühlt sich im Schwabenland wohl. 

"Es ist ein sehr gutes Stadion und eine sehr gute Stadt", sagte er schon im Mai bei "Sky". "Die Leute sind super nett, auch die Leute im Verein. Alle lächeln. Mir und meiner Familie gefällt es hier sehr gut. Der Verein gefällt mir auch, es ist ein sehr familiärer Verein." Trainer Sebastian Hoeneß lobt die Bodenständigkeit. "Es spricht für ihn. Ich glaube, es hätte die Möglichkeit gegeben – ohne, dass ich es genau weiß -, dass er den ein oder anderen Euro woanders mehr hätte verdienen können, dass er sagt: Das wäre mir zu kurzfristig gedacht, ich möchte hier bleiben, meine Familie fühlt sich wohl. Ich fühle mich wohl."

Privat ist er nicht als Lautsprecher bekannt. Guirassy gilt als Familienmensch. Zusammen mit seinen Brüdern wohnt er in Stuttgart. Neben der Familie spielt Religion eine sehr große Rolle für den Stürmer. 

Seine gewaltige Tor-Serie hat aber auch eine Kehrseite: Top-Klubs könnten bald an der Ecke stehen und mit noch mehr Geldscheinen wedeln, womöglich schon im Winter, spätestens im Sommer 2024. Dann werden wohl nicht nur Nottingham und Ajax Schlagen stehen, sondern noch namhaftere Vereine. Und zwischen Riad und Rotem Meer werden sie die Monster-Stats sicher auch schon entdeckt haben – auch wenn ein Wüsten-Wechsel aus Sicht von Guirassy wenig Sinn ergibt.

Guirassy wird dem VfB im Winter fehlen

Perspektivisch zeichnet sich noch ein weiteres Problem ab. Auch das gespeist aus dem Erfolg. Mit der Nationalmannschaft Guineas packte er die Qualifikation für den Africa-Cup (bis 13. Februar) im Januar. Toll für Guirassy, ein Problem für den VfB. Denn dadurch wird er pünktlich zum Rückrundenstart  (ab 13. Januar) einige Partien fehlen – genau wie Teamkollege Silas, der mit dem Kongo am Turnier teilnimmt. Das wird die "guirassierten" Teams wie Bochum und Freiburg freuen, die einem zweiten Wiedersehen wohl entgehen.

Guirassy ist in Frankreich geboren und aufgewachsen. Seine Eltern stammen aus Guinea. Der Stürmer durchlief zwar die Jugendnationalmannschaften der "Equipe Tricolore", entschied sich dann aber 2022 für Guinea und ist damit sehr zufrieden. "Für mich ist es jetzt eine der besten Entscheidungen meiner Karriere, für die Nationalmannschaft zu spielen."

Doch noch ist das Turnier in Afrika in Ferne, es herrscht weiter verlängerter Spätsommer über dem Stuttgarter Kessel. Kurzfristig kann der VfB sogar schon an diesem Freitag die Tabellenführung zurückerobern. Am Freitag empfängt das Team vor ausverkauftem Haus Aufsteiger SV Darmstadt (20.30 Uhr, im sport.de-Live-Ticker) und kann dann vorübergehend Bayer Leverkusen verdrängen. And der Spitze stand der VfB schon nach dem 1. Spieltag, nach dem ersten 5:0- und Tore-Spektakel gegen Bochum.

Bleibt Guirassy bei seinem Tore-Schnitt, hat er danach den Rekord für Treffer nach dem 5. Spieltag inne – zusammen mit Robert Lewandowski.

Emmanuel Schneider