05.09.2013 15:59 Uhr

Zwei Herzen in einer Brust

Hakan Calhanoglu spielte bisher eine tolle Saison
Hakan Calhanoglu spielte bisher eine tolle Saison

Die deutsche Nationalmannschaft gilt heutzutage als Paradebeispiel für gelungene Integration. Im Hintergrund toben jedoch Machtkämpfe zwischen den Verbänden um Talente mit doppelter Staatsbürgerschaft.

Als Hakan Çalhanoğlu am vergangenen Wochenende seine ersten beiden Bundesligatreffer für den HSV erzielte, wird Hamburgs Urgestein Horst Hrubesch vermutlich eher verhalten gejubelt und heimlich die Faust geballt haben. Der junge Deutsch-Türke wurde seit Monaten von Vertretern des deutschen und des türkischen Fußballverbandes belagert und musste deshalb mit seinen gerade einmal 19 Jahren schon eine folgenschwere Entscheidung treffen: Bundesadler oder türkischer Mondstern auf der Brust?

Nach einigem Hin und Her wählte der gebürtige Mannheimer die Türkei als Nationalteam aus und wurde prompt für die A-Mannschaft nominiert. So guckte Deutschlands U21-Coach Hrubesch schlussendlich in die Röhre.

Das Beispiel von Çalhanoğlu zeigt: Das Wettrennen um die talentierten Nachwuchsspieler ist in vollem Gange. Sicherlich haben die Jugendkoordinatoren des DFB in den vergangenen Jahren viel zu jubeln gehabt, folgten doch aktuelle Leistungsträger wie Mesut Özil und Ilkay Gündogan nicht dem Ruf aus der Heimat ihrer Eltern. Doch bis die Strahlkraft des Bundesadlers ihr heutiges Level erreicht hatte, war die Arbeit der Scouts von zahlreichen Rückschlägen geprägt.

Dortmunds Wunderkind zwischen den Stühlen

Begonnen hat das muntere Wechselspiel im Jahr 2004, als die FIFA ihre Regeln für die Spielberechtigung für Länderauswahlen änderte und es so auch Akteuren aus U-Mannschaften ermöglichte, für andere A-Nationalteams aufzulaufen.

Als einer der ersten saß Nuri Sahin von Borussia Dortmund zwischen den Stühlen: Der jüngste Bundesligaspieler aller Zeiten, der mit 16 Jahren sein Debüt in schwarz-gelb gegeben hatte, durchlief mehrere Juniorenteams der Türkei. Durch den Hype rund um seinen Einstand beim BVB hatte die deutsche Presse aber reges Interesse an Sahin und dessen Nationalmannschaftskarriere gefunden.

Als der Mittelfeldmann schließlich bekanntgab, für die Türkei zu spielen, machten die Herren beim DFB lange Gesichter, suchte man doch händeringend nach Hoffnungsträgern für die anstehende Weltmeisterschaft im eigenen Land.

Rückblickend sagte Hamit Altintop, der einst ebenfalls vor der Wahl eines Nationalteams stand, in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung zu diesem Thema: „Ich finde, dass es einem von vornherein klar sein muss, für wen man spielt - egal, ob man eine Einladung bekommt, egal, ob die Perspektiven besser oder schlechter sind." Für ihn gehe es allein um die Fahne auf der Brust.

Die Perspektive gibt den Ausschlag

Unbestritten spielte der familiäre Einfluss zumeist eine wichtige Rolle. Ob nur das bei Çalhanoğlu und Co. ausschlaggebend war, darf zumindest diskutiert werden, denn die Einsatzchancen in einer Nationalmannschaft treten immer häufiger in den Vordergrund.

Bestätigt wird diese These durch einen Blick auf den Kader der deutschen U21-Europameistermannschaft von 2009: Von den 23 nominierten Akteuren schafften elf dauerhaft den Sprung ins Team von Joachim Löw.

Wer nicht daran glaubte, noch einmal den Bundesadler auf der Brust tragen zu dürfen, wanderte ab. So spielen Änis Ben-Hatira (Tunesien), Sebastian Boenisch (Polen), Ashkan Dejagah (Iran) und Fabian Johnson (USA) heute mangels Perspektive im deutschen Team für die Heimatländer ihrer Eltern(teile). 

Kontrastprogramm bei den Boatengs

Eine Entscheidung, die auch das Berliner Brüderpaar Kevin-Prince und Jerome Boateng auseinandertrieb. Beide spielten gemeinsam in den deutschen Nachwuchsteams. Als kurz vor der WM 2010 in Südafrika die Anfrage aus Ghana kam, verfiel Kevin-Prince der Verlockung und sicherte sich so seinen Stammplatz im größten Schaufenster der Fußballwelt.

Ganz anders lief es für Jerome: Der jüngere Halbbruder schaffte trotz starker Konkurrenz den Sprung in den deutschen Kader, obwohl der Verteidiger ebenfalls für Ghana spielberechtigt gewesen wäre.

Flucht vor der Konkurrenz

Heute ist das Gesicht der deutschen Nationalmannschaft geprägt von gelungener Integration á la Boateng: Sieben Spieler des aktuellen Kaders besitzen zwei Pässe, doch gehen trotz des Konkurrenzdrucks mit dem Bundesadler auf der Brust auf Titeljagd. Wer den Kampf um die Plätze scheut, kann heutzutage sogar als A-Nationalspieler noch umschwenken, so geschehen bei Jermaine Jones, der nach drei Testspieleinsätzen für Deutschland ins US-Team flüchtete und dort zum Leistungsträger wurde.

Komplexe Entscheidungsfindung

Jones und Co. beweisen: Besonders im Jugendbereich haben sich die Prioritäten zur Wahl eines Nationalteams verschoben. Auch wenn das Zugehörigkeitsgefühl und die Identifikation weiterhin von Bedeutung sind, wollen die Talente vor allem garantierte Einsatzzeiten in einer möglichst prestigeträchtigen Mannschaft. Wenn beides nicht unter einen Hut zu bringen ist, müssen die Nachwuchsspieler Abstriche machen. So ist ein enorm komplexes Konstrukt aus Einflussfaktoren entstanden, das an den jungen Spielern zerrt und sie zwingt, dass eines der zwei Herzen in ihrer Brust nicht mehr so laut schlagen darf.

Österreichs Nationalspieler Martin Harnik kann ein Lied davon singen. Der gebürtige Hamburger entschied sich früh für die Alpenrepublik und trifft nun am Freitag in München auf die deutsche Elf. In seinen bisherigen Duellen mit seinem Geburtsland konnte Harnik, der einst auch im Fokus der deutschen U21 stand, regelmäßig für Unruhe im deutschen Strafraum sorgen. Gut möglich, dass Horst Hrubesch morgen wieder einen Anlass bekommt, seine Faust zu ballen.

 

>> der Liveticker zum Spiel Deutschland - Österreich

 

Heiko Lütkehus