21.05.2016 11:48 Uhr

Tuchel: Der Genuss ist die Arbeit

Thomas Tuchel ist ein akribischer Arbeitgeber
Thomas Tuchel ist ein akribischer Arbeitgeber

BVB-Trainer Thomas Tuchel ist ein Getriebener. Er gilt als ein herausragender Vertreter seiner Zunft und hat die Borussia binnen eines Jahres ein anderes Gesicht gegeben. Genießen kann er Fußball aber nur bedingt.

Thomas Tuchel pflegt zum Fußball eine Beziehung irgendwo zwischen Liebe und Besessenheit, er analysiert ihn fast wahnhaft bis zum letzten Grashalm. Vielleicht wünscht er sich deshalb manchmal, er wäre wieder jung. "Ich würde viel darum geben, mir das Gefühl zurückzuholen, was es mir bedeutet hat, als Jugendlicher Bundesliga zu schauen, das Pokalfinale zu schauen", berichtete er am Freitag.

Vom Bolzplatz zu kommen, "mit dreckiger Hose, den Ball noch unter dem Arm", dann auf die Couch zu plumpsen und mitzufiebern - diese Zeiten sind vorbei. Als Trainer von Borussia Dortmund bewegt sich die Anspannung in Sphären, die jeglichen Genuss verhindern - noch einmal verschärft vor einem Finale wie jenem gegen Bayern München am Samstagabend.

"Wenn ich Genuss haben will, muss ich nach Barcelona fahren, Madrid, nach London, mir ein Ticket holen und Fußball gucken", sagt Tuchel. Anonsten gebe es schon eine Art von Genuss, eine typische Thomas-Tuchel-Art: "Der Genuss ist die Arbeit."

Schachspieler "ohne Allmachtsfantasien"

Die Akribie hebt ihn von anderen Trainern ab, er ähnelt da Pep Guardiola, der sehr schätzt, dass "Thomas 24 Stunden am Tag über Fußball nachdenkt". Fast wirkt es ja, als ernähre sich Tuchel auch ausschließlich von Fußballspielen, dazu trägt sein asketisches Aussehen bei. Auf die Frage, ob sein Trainer nicht mal eine Currywurst essen sollte, sagte BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke dem Münchner Merkur, so schlimm sei es ja nicht. "Er isst gar nicht so wenig. Man muss sich ja auch nicht nach jedem Spiel besaufen."

Das wäre auch schwer vorstellbar, denn Thomas Tuchel hat gern alles unter Kontrolle, "ohne Allmachtsfantasien", wie Watzke sagt. Er verglich Tuchel und Guardiola mit Schachspielern: Stets bemüht, den nächsten Zug zu erahnen, um unverzüglich die Reaktion zu setzen.

Selbst wenn Tuchel während einer Pressekonferenz alles auf Angriff stellt, wie zuletzt nach dem 2:2 gegen den 1. FC Köln im letzten Bundesliga-Saisonspiel, wirkt es noch kontrolliert. Jedes Wort ist gewählt und kommt schneidend, mit kalkulierter Wirkung.

"Vollgas-Fußball" plus X

Spielerisch hat Tuchel Borussia Dortmund einen neuen Schub gegeben. Der so häufig bemühte "Vollgas-Fußball" von Jürgen Klopp, der den BVB jahrelang über die Grenzen peitschte und irgendwann auslaugte, wird um einige Elemente erweitert. Mehr Geduld, weniger Überfall, mehr Ballbesitz, weniger Spiel gegen den Ball. Oder: mehr Guardiola, weniger Klopp.

Dies führte zur zweitbesten Saison der BVB-Geschichte mit 78 Punkten, einer ordentlichen Europapokalsaison und dem Einzug ins Pokalfinale. Der BVB kann jetzt auch Gegner dominieren, die hinten mit zwei Ketten dicht machen - das war unter Klopp das Manko.

Einer Mannschaft, die so spielt, hätte Tuchel früher wahrscheinlich gerne zugesehen. Damals, als er den Fußball noch genießen konnte.