07.02.2024 08:49 Uhr

Das Spiel, das Nagelsmann nicht verpassen durfte

Jonathan Tah bejubelt den entscheidenden Treffer
Jonathan Tah bejubelt den entscheidenden Treffer

Bayer Leverkusen und der VfB Stuttgart liefern sich im Viertelfinale des DFB-Pokals einen spektakulären Schlagabtausch, der Fußball-Deutschland begeistert. Bundestrainer Julian Nagelsmann sollte aus mehreren Gründen genau hingeschaut haben.

Pünktlich zum Anpfiff roch es in der BayArena in Leverkusen ein bisschen nach Silvester. Die Leuchtfeuer der Leverkusen-Fans glühten. Passte auch irgendwie. Denn in den folgenden 90 Minuten entfaltete sich ein Fußball-Feuerwerk.

Oder wie VfB-Trainer Sebastian Hoeneß nach dem Spiel sagte: "Dann war’s ein Spektakel". Selbst der nicht als Emotions-Vulkan bekannte Leverkusen-Coach Xabi Alonso jubelte wild und ausgelassen mit dem Team. Das habe nach diesem wilden Spiel einfach mal rausgemusst, sagte der Spanier auf der Pressekonferenz.

Links wie rechts war im Stadion zu hören: Einen solchen starken Gegner habe man in dieser Saison noch nicht in der Arena in Leverkusen gesehen. Dortmund war schon da, Bayern eben erst am kommenden Samstag. Und irgendwie ist es für die Liga, für den deutschen Fußball auch mal erfrischend, wenn sich das Duell des Jahres nicht Bayern und Dortmund geben. Dass ausgerechnet Leverkusen und Stuttgart sich das Must-See-Spiel der Saison liefern würden, wer hätte das vor der Saison gedacht?

Ein Pokal-Spektakel, das die Fans begeistert

Ein Spektakel, ein Feuerwerk. Kurzum: Ein Spiel, das Bundestrainer Julian Nagelsmann nicht verpassen durfte. Die Partie der beiden wohl momentan spielstärksten Mannschaften dürfte er sich dick im Kalender markiert haben. Auch aus Eigennutz.

Und zwei, die dieses Spiel extrem geprägt haben, lieferten eine der Szenen des Abends. Schon weit nach Abpfiff liefen sich die Innenverteidiger Jonathan Tah und Waldemar Anton in den Katakomben des Stadions über den Weg. Kurzer Schnack, Umarmung, Respektbekundungen.

Ein kurzes, vielleicht nur auf den ersten Blick abwegiges Gedankenspiel: Steht da das deutsche Innenverteidiger-Duo für die kommenden Heim-EM?

Warum eigentlich nicht? Klar, ein unwahrscheinliches Szenario, dass beide in er Startelf stehen werden – zu international unerfahren sind beide (vor allem Anton). Doch Argumente für eine Nominierung lieferten die beiden Kapitäne ihrer Teams erneut an diesem Abend. Schon ungewöhnlich genug, dass beide Abwehrchefs wichtige Tore erzielten. Mit freundlichen Grüßen an Julian Nagelsmann. Passenderweise gab es Fernlob vom Nationalelf-Konkurrenten Mats Hummels via X – "Das ist so ein gutes Fußballspiel".

Dafür dass Jonathan Tah mit seiner eigenen Leistung im Nachhinein nicht so 100 Prozent zufrieden war, lieferte er ein Spiel mit Ausrufezeichen. In den sehr körperlich geführten Duellen gegen Top-Stürmer Deniz Undav, der zuletzt in zwei Spielen vier Mal traf, ging er meist als Sieger hervor.

Bewerbungsschreiben für Julian Nagelsmann

Der 1,95 Meter lange Tah freute sich über ein "sehr emotionales, taffes Spiel“. Die spielstarken Leverkusener hätten diesmal dank des "Willens, Kampfgeistes und der Siegermentalität" gewonnen. Vorgelebt von Tah. Der 21-malige Nationalspieler sorgte erneut für einen späten Sieger-Punch der Werkself, nachdem ihm Florian Wirtz einen "überragenden Ball" infolge einer Ecke auflegte.

Tah hatte sich freigeschlichen, den Arm gehoben und dann einfach eingenickt. "Ich wollte den Ball unbedingt haben. Mein Gedanke war: Ich mache den rein. Egal wie." Er ging rein, Bayer siegte 3:2 und blieb zum 30. (!) Mal in Serie (!) ungeschlagen. Eine Serie für die Ewigkeit. Das Triple aus Meisterschaft, Pokal und Europa League ist weiter in Reichweite.

Kurz nachdem sich also Tah und Anton herzten, stiefelte ein erkennbar angesäuerter Deniz Undav in Richtung Kabine, deutlich hörbare Schimpfwörter vor sich hinfluchend. Der Stürmer erlebte auch wegen Tah nicht seinen besten Abend, erarbeitete sich aber dennoch ein paar Chancen, die mit etwas mehr Glück ins Tor gehen. Allein seine vergangenen Bundesliga-Spiele und seine Quirrligkeit werden seine erste Nominierung im März rechtfertigen. Sie gilt als so gut wie sicher.

Eine Überraschung wäre ein Bundestrainer-Anruf für Waldemar Anton wohl eher nicht mehr. Anton, der jüngst seinen Abwehrpartner Dan-Axel Zagadou wegen einer Knieverletzung verlor, köpfte die Schwaben sehenswert und nach guter Körpertäuschung in Football-Manier in Führung, verteidigte und grätschte später viele der sehr vielen Leverkusener-Pässe in die Schnittstellen weg.

Schon seit längerer Zeit werden die Rufe nach einer Nominierung lauter.

"Er führt die Zweikämpfe für seine Nebenleute mit. Er leitet Anthony Rouault und Hiroki Ito an. Er hat viele Bälle erlaufen und immer ein Bein dazwischen bekommen, Sprintduelle gewonnen. Von ihm war es wie so oft in dieser Saison eine überragende Leistung", lobte Sportdirektor Fabian Wohlgemuth.

Ist Anton reif für das DFB-Team? Da wolle er nicht widersprechen, sagte Wohlgemuth. "Am Ende entscheidet das der Nationaltrainer.“ Man könne auf jeden Fall bejahen, dass er eine hohe Zahl an Spielen mit gewissen Konstanz abgeliefert habe.

Dass die VfB-Defensive dennoch drei Tore einstecken musste, lag weniger am Fehlverhalten der Stuttgarter denn am Können der Gastgeber.

Allen voran Florian Wirtz, Vorbereiter von zwei Toren, sorgte immer wieder für Torgefahr im Stuttgarter Halbfeld. Sobald der 20-Jährige den Ball an den Fuß bekam und dieser dann einfach kleben blieb, war Alarm angesagt. Allein ein Tor fehlte zum perfekten Abend des Florian Wirtz. Es bleibt dabei: Mit seiner Technik und Talent ist Wirtz neben Jamal Musiala das größte Versprechen des deutschen Fußballs, eigentlich ein Muss für die deutsche Startelf.

Einen kuriosen Abend erlebte Wirtz-Teamkollege Robert Andrich. Früh in der ersten Halbzeit sah er nach einer heftigen Grätsche gegen Atakan Karazor Gelb und hatte wohl etwas Glück, als er in der 36. Minute nicht Gelb-Rot sah, als er Enzo Millot umrempelte. Eine Situation, die auch VfB-Coach Sebastian Hoeneß in der PK ansprach, ohne konkret den Namen Andrichs zu nennen. So aber bleib der defensive Mittelfeldmann im Spiel und brachte Bayer per Traum-Schlenzer zurück ins Spiel.

Weniger gut sah er dann kurz darauf aus. Nach einem schlampigen Zuspiel von Pokal-Keeper Matej Kovar verlor er am eigenen Sechzehner der Ball, woraus daraus das 1:2 resultierte.

Mentalitätsmonster unter dem Bayer-Kreuz

"Der Sieg heute kann nochmal einen Schub geben", sagte Andrich. "Mit der Mentalität können wir sehr zufrieden sein". Die Mentalitätsmonster unterm Bayer-Kreuz.

Argumente für eine weitere Berufung im Frühjahr gegen Frankreich und Niederlande sammelte auch Chris Führich. Der Stuttgarter Flügelspieler brachte die Bayer-Defensive über Links einige Male in Schwierigkeiten und schoss nach dem angesprochenen Andrich/Kovar-Fehler eiskalt und unhaltbar zur erneuten VfB-Führung. Auch Führich sollte für die Europameisterschaft gute Chancen haben, könnte eine Art David Odonkor (siehe 2006) des Jahres 2024 werden. Also ein Spieler, der von der Bank Power, Speed und Dribbelstärke bringt. Einer, der wie Undav das Straßenfußballer-Zocken verkörpert, wie es sich ja Fans und Experten immer wünschen.

Allein: Sein Tor zu Führung reichte nicht. Der Tabellenführer der Bundesliga war mental an diesem Abend nicht kleinzukriegen. Kam zwei Mal zurück und setzte dann wieder in der Schlussphase den entscheidenden Treffer, von dem der VfB nicht mehr aufstand.

Halbfinale. Der erste Titel seit 1993 fest im Blick. Nächster Halt: Topspiel gegen Bayern. Der erste Teil der Woche der Wahrheit ist vollbracht und liefert die Erkenntnis: Diese Elf und dieser Trainer brauchen sich vor keinem Team zu verstecken.

"Oh, wie ist das schön", sang die Nordkurve zusammen mit dem ganzen BayArena nach Schlusspfiff. Und alle Fußballfans, vielleicht mit Ausnahme der VfB-Anhänger, konnten nur zustimmen. Wobei selbst die VfB-Fans dürften nach diesem Abend anerkennen: Oh, was ein schönes Fußballspiel.

Aus Leverkusen berichten Tobias Nordmann und Emmanuel Schneider