08.07.2016 11:38 Uhr

Vor 10 Jahren: Der Titan tritt ab

Lange ists her, Oliver Kahn im Dress der deutschen Nationalmannschaft
Lange ists her, Oliver Kahn im Dress der deutschen Nationalmannschaft

Weltmeisterschaft 2006. Das ganze Land in Ekstase, monatelang fieberte die Nation dem Großevent entgegen. Nur einer dürfte Schwierigkeiten gehabt haben sich zu motovieren: Oliver Kahn.​

30.06.2002, International Stadium Yokohama. Es ist das Endspiel der Weltmeisterschaft. Einer Weltmeisterschaft, deren Titel nur einem gehören kann. Oliver Kahn. Der damals 33-Jährige scheint unüberwindbar. Er trägt die spielerisch limitierte DFB-Elf mit unmenschlichen Leistungen ins Finale - und patzt. Einen Schuss von Rivaldo lässt Kahn nach vorne abprallen und Ronaldo staubt zum 1:0 ab. Die deutsche Auswahl erholt sich nicht mehr und verliert schlussendlich mit 2:0. Es sind herzzereißende Bilder, die den Torwart-Titanen niedergeschlagen am Pfosten zeigen.

"Weiter, immer weitermachen!" Das hatte Kahn, mit Tränen in den Augen, noch beim Meisterschaftsfinale 2001 seinem Trainer Ottmar Hitzfeld entgegengebrüllt. Doch nach dem Schlusspfiff im WM-Finale, wo will er da weitermachen? Es ist die vermutlich größte Niederlage seiner Laufbahn. Einer Laufbahn, die weniger auf außerordentlicher Begabung, als vielmehr unbändigem Willen fußt.

Ein Titan verliert

07.04.2006, München. Torwarttrainer Andreas Köpke teilt Kahn mit, dass er bei der Heim-WM nur als Nummer zwei eingeplant ist. Vier Jahre nach seiner größten Niederlage ist der 36-Jährige der Chance beraubt es besser zu machen. Kahn verliert erneut. Doch der dreimalige Welttorhüter beweist, dass er mittlerweile mit der Niederlage umzugehen weiß. Er tritt nicht zurück, sondern unterstützt die Klinsmann-Elf von der Bank aus. Es ist die "vielleicht schwierigste Zeit" seiner Karriere, beschreibt er selbst. Aber Kahn zeigt Größe. Im Viertelfinale gegen die Argentinier wünscht er Jens Lehmann, jenem Mann der ihn so lange bekämpfte und schließlich bezwang, viel Glück. Es sind Fernsehbilder, die um die Welt gehen und Kahn Sympathien einbringen. Lehmann hält den Schuss von Esteban Cambiasso. Deutschland ist weiter.

Allerdings ist im Halbfinale Schluss. In der 119. Minute beenden die Italiener, in Gestalt von Fabio Grosso, die deutsche Party. Del Piero erhöht wenig später auf 2:0. Es ist der Anfang vom Ende des Sommermärchens. Der DFB-Elf bleibt nur noch das ungeliebte Spiel um den dritten Platz. Kahns letztes Länderspiel.

Die Partie endet 3:1 für die Deutschen. Ein versöhnlicher Abschluss, auch wenn eine neuerliche Niederlage vermutlich die wenigsten gejuckt hätte. So aber holen die Gastgeber wenigstens den dritten Platz. Bastian Schweinsteiger zeigt eine starke Leistung, zwei Weitschüsse machen ihn zum Mann des Spiels. Im Mittelpunkt aber steht ein anderer: Kahn spielt souverän, pariert Schüsse von Deco und Pauleta wie zu besten Zeiten. Einmal nur muss der Torwart, nach einer Aktion von Nuno Gomes, hinter sich greifen.

Ein Titan gewinnt

Nach dem Spiel streicht Kahn über den Rasen des Gottlieb-Daimler-Stadions und erinnert dabei an Franz Beckenbauers Spaziergang über das Grün des römischen Fußballtempels nach dem Gewinn der WM 1990. Er grüßt alte Weggefährten wie Michael Ballack, Luís Figo, klatscht sogar Jens Lehmann und Jürgen Klinsmann ab.

In diesen Momenten wirkt Kahn wie jemand, der zur Ruhe gekommen ist. "Ich habe alles erlebt, alles gesehen: Weltmeisterschaften, Europameisterschaften. Ich kann jetzt nach fast 90 Länderspielen völlig zufrieden und mit mir selbst im Reinen das Thema Nationalmannschaft abschließen", bestätigt er nach dem Spiel. Es passt zum Eindruck, dass Kahn den dritten Platz bei der WM höher einordnet als seine Erfolge auf Vereinsebene. Als den "vielleicht größten emotionalen Moment" beschreibt er seine Ehrenrunde nach der Begegnung.

Man könnte sagen, dass Kahn den Zeitpunkt des Abtretens verpasst hat. Nicht mehr auf dem Zenit seiner Leistungsfähigkeit, sondern angeschlagen. Menschlich aber ist Kahn erst 2006 im Olymp angekommen.

Das Ende seiner DFB-Karriere ist kein kleines. Es ist ein ganz ganz großes.

Simon Lürwer