20.06.2021 11:38 Uhr

Nicht alles Gold, was glänzt: Lehren aus dem DFB-Sieg

Mats Hummels und Thomas Müller (r.) bejubeln den Sieg gegen Portugal
Mats Hummels und Thomas Müller (r.) bejubeln den Sieg gegen Portugal

Die DFB-Elf ist rechtzeitig im Turnier angekommen. Beim spektakulären 4:2-Erfolg gegen Lieblingsgegner Portugal ließ das Team von Bundestrainer Joachim Löw einen klaren Aufwärtstrend erkennen. Trotz der eindeutig überwiegend positiven Ansätze offenbarte die Partie allerdings auch das ein oder andere kleinere Manko.

Keine personellen Wechsel, keine Systemumstellung. Joachim Löw vertraute im zweiten Gruppenspiel gegen Portugal den Spielern, die gegen Frankreich zu vorsichtig, zu abwartend agiert hatten - er sollte Recht behalten. Nicht das Personal war gegen den Weltmeister gescheitert, sondern die Umsetzung der 3-4-2-1-Strategie.

Löw brachte es nach dem 4:2 über den amtierenden Europameister in der Pressekonferenz auf den Punkt: "Wir sind immer wieder hinter die Abwehr gekommen. Kimmich und Gosens haben das super gemacht." Tatsächlich gingen allen deutschen Treffern – inklusive des Abseitstreffers von Robin Gosens (5. Minute) – in irgendeiner Weise Flanken voraus.

Überragender Gosens zeigt, wie es geht

Und in irgendeiner Weise hatte eben jener Gosens immer seinen starken linken Fuß im Spiel. Der Mann des Tages von Atalanta Bergamo unterstrich seine Offensivqualitäten (elf Tore, sechs Assists in der Serie A 2020/21) und diente als Vorbild, was Einsatzwillen und vor allem Mut betrifft.

Gosens setzte das um, was Löw forderte: Nicht nur mehr Flanken, sondern vor allem mehr Mut in den Eins-gegen-eins-Duellen. Die Heatmap von Gosens – links das Spiel gegen Frankreich, rechts gegen Portugal – zeigt auf, wie häufig er sich im Strafraum der Portugiesen befand. Von dort aus erzielte der 26-Jährige mit einem schulmäßigen Kopfball auch das 4:1 in der 60. Minute. Übrigens nach einer Flanke seines Gegenparts auf der rechten Seite – Joshua Kimmich.

Zielstrebigkeit ermöglicht Chancen

In die zugegebenermaßen riesigen Lücken in der portugiesischen Abwehr stießen aber auch andere deutsche Akteure. Kai Havertz und Serge Gnabry rotierten viel und waren für Portugal kaum zu fassen. Thomas Müller leitete zwei deutsche Treffer ein und war ein wichtiger Organisator in der Offensive.

Ein Beispiel: Müller und Gnabry hatten in der ersten Halbzeit gegen Frankreich nur jeweils einen Ballkontakt im gegnerischen Strafraum, gegen Portugal kamen sie vor dem Seitenwechsel zusammen auf ganze 13.

Ermöglicht wurden diese Aktionen in den gefährlichen Räumen durch eine deutlich verbesserte Zielstrebigkeit:

  • In der Vorbereitung: 78 Prozent der Pässe im finalen Drittel kamen beim Mitspieler an, gegen Frankreich waren es nur 74 Prozent.

  • Im Duell Mann gegen Mann: Während Deutschland gegen Frankreich nur eines seiner 13 Dribblings erfolgreich bestritt (acht Prozent), lag die Erfolgsquote nun bei 56 Prozent!

  • Im Abschluss: Sieben von zwölf Schüssen gingen auf das portugiesische Gehäuse, gegen Frankreich war es nur einer von zehn.

Das Tor zum Achtelfinale ist nun weit geöffnet. Selbst ein Unentschieden im abschließenden Gruppenspiel gegen Ungarn reicht definitiv zum Weiterkommen. Trotz des Offensiv-Spektakels ist bei den Schützlingen von Joachim Löw aber nicht alles Gold, was glänzt.

Deutsche Abwehr macht Sorgen

Defensiv war die Vorstellung auf keinen Fall ein Fortschritt. Den Treffer zum 0:1-Rückstand (15. Minute) kassierte Deutschland nach einem eigenen Eckball. Auch wenn Portugal den Konter hervorragend ausspielte, klafften riesige Lücken in der Rückwärtsbewegung. Von der Dreierkette Ginter/Hummels/Rüdiger war bis zum Abstauber von Cristiano Ronaldo weit und breit keine Spur.

Beim zweiten Gegentreffer durch Diogo Jota (67. Minute) war die deutsche Hintermannschaft, wie bereits gegen Frankreich, bei einem ruhenden Ball denkbar schlecht organisiert. Und: Hätte Renato Sanches in der 78. Minute ein paar Zentimeter weiter nach rechts gezielt und nicht den Pfosten getroffen – die Schlussphase wäre eine echte Zitterpartie gewesen.

Hummels fehlt es an Schnelligkeit, Rüdiger an Zweikampfverhalten

Rückkehrer Mats Hummels überzeugt zwar im Aufbauspiel, ist aber noch nicht der erhoffte Stabilisator. Seine Schnelligkeitsdefizite sind sichtbar, das war zu erwarten. Champions-League-Sieger Antonio Rüdiger überzeugte weder gegen Frankreich noch gegen Portugal. In beiden Partien gewann er nur 20 Prozent seiner Zweikämpfe. Desolat für einen Innenverteidiger.

Gegen Ungarn warten zumindest keine Kaliber wie Mbappé, Benzema oder Ronaldo auf die deutsche Abwehr. Ein Spiel ohne Gegentor würde Manuel Neuer und Co. sicher gut tun. Das Verteidigen von Standardsituationen sollte aber auf der Tagesordnung ab sofort ganz oben stehen.

Lars Wiedemann