24.03.2022 10:08 Uhr

Der wundersame Aufstieg von Jonathan Clauss

Jonathan Clauss wurde mit 29 erstmals in die Nationalmannschaft berufen
Jonathan Clauss wurde mit 29 erstmals in die Nationalmannschaft berufen

Mehr Fußball-Märchen geht kaum: 2015 kickte Jonathan Clauss noch in der Verbandsliga Südbaden für den SV Linx, heute ist der Flügelflitzer Teil des französischen Nationalteams. Beim wundersamen Aufstieg des 29-Jährigen, der sich die Kabine neuerdings mit vielen Stars des FC Bayern teilt, spielte Arminia Bielefeld eine entscheidende Rolle.

Als Nationaltrainer Didier Deschamps in der vergangenen Woche seinen Kader für die Freundschaftsspiele der französischen Auswahl gegen die Elfenbeinküste und Südafrika verkündete, saß das komplette Team des Ligue-1-Klubs RC Lens vor dem Fernseher.

Direkt nach den drei Torhütern sagte der Weltmeister-Coach die magischen Worte: "Defenseur: Jonathan Clauss". Anschließend kannte der Jubel in Lens keine Grenzen: Während der spätberufene Profi von seinen Emotionen überwältigt im Sofa versackte, tanzten und sangen seine Mitspieler, als hätten sie gerade die Meisterschaft gewonnen. Jedem war bewusst: Hier war gerade etwas Außergewöhnliches passiert.

Tatsächlich werden Geschichten wie die von Clauss im modernen Fußball immer seltener. Dass ein Spieler, der im September 30 wird und die Hälfte seiner Karriere in Amateurligen verbrachte, in eine der besten Nationalmannschaften der Welt berufen wird, ist heutzutage nahezu undenkbar. Und doch hat Clauss das kleine Wunder wahr werden lassen.

Clauss musste "das alles erst einmal fassen"

Nach seinen ersten Trainingseinheiten mit Kylian Mbappé, Kingsley Coman und Co. sprach Clauss erstmals über die bewegten letzten Tage.

"Ich musste das alles erst einmal fassen. Alles schien so weit weg, und plötzlich war ich hier. In den ersten Stunden dachte ich mir: 'Verdammt, du bist wirklich hier', aber ich kann es mir nicht leisten, zu lange zu träumen, denn dann werde ich meine Chance hier verpassen. Und das will ich nicht", richtete der Spätstarter seinen Blick direkt nach vorne.

Leicht zu verarbeiten sind die Eindrücke sicher nicht, schließlich deutete vor sieben Jahren noch überhaupt nichts darauf hin, dass Clauss jemals Fußball-Profi werden könnte.

Von der 6. Liga auf die große Fußball-Bühne

Der aus der deutschen Grenzregion stammende Franzose tingelte damals von Amateur-Verein zu Amateur-Verein, neben mehreren Gastspielen bei unterklassigen Klubs in seiner Heimat schnürte er auch zwei Jahre die Schuhe für den deutschen Sechstligisten SV Linx, dessen Stadion nur wenige Kilometer von Clauss' Geburtsstadt Straßburg entfernt liegt.

Erst 2017 sammelte der rechte Flügelspieler erste Erfahrungen im Profi-Bereich, als der französische Zweitligist Quevilly Rouen ihm eine Bewährungschance einräumte. Clauss nutzte sie und spielte sich so in den Fokus von Arminia Bielefeld.

Bei den Ostwestfalen avancierte der wieselflinke Vorlagen-Spezialist schnell zum Fan-Liebling, auch seinen Offensiv-Vorstößen verdankte der damalige Zweitligist die Entwicklung von einer grauen Maus zum Aufstiegskandidaten. Das Happy End folgte 2020 mit der Rückkehr ins Oberhaus.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Clauss seinen persönlichen Traum von einem Engagement in der Ligue 1 allerdings schon wahr gemacht: Aufsteiger RC Lens fragte beim ablösefreien Rechtsfuß an, der nicht lange zögerte und bis 2023 unterschrieb.

Clauss' Vielseitigkeit beeindruckt auch Deschamps

Bei den Nordfranzosen mauserte sich Clauss in Windeseile zum Leistungsträger, der als Schienenspieler auf der rechten Seite kaum zu halten ist. Im ersten Jahr standen drei Tore und sechs Vorlagen zu Buche, aktuell sind es schon vier Treffer sowie neun Assists. Längst feiern ihn die Fans mit eigenen Sprechchören.

So wurde auch Didier Deschamps auf den 29-Jährigen aufmerksam, schließlich sucht der Weltmeister von 1998 schon länger nach einer Idealbesetzung für den rechten Flügel. Clauss, der sowohl defensiv als auch offensiv eingesetzt werden kann, passte mit seiner Vielseitigkeit offenbar gut in sein Konzept.

Ob sich der frühere Bielefelder nun tatsächlich Hoffnungen auf einen festen Platz im Star-Aufgebot der Franzosen machen darf, ist unklar. Zu Beginn des WM-Jahrs aber nominiert worden zu sein, ist sicher kein schlechter Anfang.

Und wenn die letzten Jahre eines gezeigt haben, dann ist es die Tatsache, dass man Jonathan Clauss niemals abschreiben sollte.

Heiko Lütkehus