22.06.2024 09:18 Uhr

"Spiel des Lebens": Emotionalisierte Ukraine legt die EM-Starre ab

Die Ukraine feiert einen emotionalen Sieg gegen die Slowakei
Die Ukraine feiert einen emotionalen Sieg gegen die Slowakei

Wie schon im Auftaktmatch startet die Ukraine auch im wichtigen EM-Gruppenspiel gegen Slowakei fahrig. Dank eines Torwart-Kniffs und eines Traumtors melden sich die Blau-Gelben zurück und sind wieder voll im Rennen ums Achtelfinale. Am Ende wird es emotional im Düsseldorfer Stadion. 

Anatoliy Trubin bewachte sein Tor mit allem, was er hatte. Mit Füßen, Händen und Rippen wehrte der Schlussmann der Ukraine in der Anfangsphase gegen die Slowakei mehrere Großchancen ab. Bügelte die Schnitzer seiner Vorderleute aus, die trotz eines blau-gelben Fanblocks im Rücken in der Düsseldorfer EM-Arena äußerst hibbelig agierten.

Nationaltrainer Serhiy Rebrov hatte Trubin das Vertrauen geschenkt, weil Andriy Lunin von Real Madrid bei der 0:3-Niederlage zum Auftakt gegen Rumänien keine gute Figur machte. Trubin zahlte zurück. In der 18. Minute konnte aber auch der Zwei-Meter-Hüne sein Team nicht mehr retten.

Andriy Yarmolenko ließ Lukas Haraslin den Ball von der linken Seite ungestört an den Fünfmeterraum flanken, wo Ivan Schranz seinen Gegenspieler Oleksandr Zinchenko locker übersprang und einmal nickte. Der unangenehme Aufsetzer fand an Trubins Fingern vorbei den Weg ins Netz. 

Die Männer in Gelb wirkten, wie schon gegen Rumänien, verunsichert. Als laste ein besonders schwerer Druck auf ihnen. Als müssten sie ihren Landsleuten in der Heimat inmitten von Krieg und Bombenterror etwas Besonderes bieten. 

Der Krieg im Heimatland verfolgt die ukrainische Nationalmannschaft bei dieser Europameisterschaft bis nach Düsseldorf. Sie will ihn auch gar nicht ausblenden. Die ukrainische Delegation bringt in ihre Spielstädte Teile einer von russischen Bomben zerstörten Tribüne aus Charkiv mit. Ein Mahnmal. So nannte es Verbandspräsident und Ex-Stürmerstar Andriy Shevchenko schon auf der ersten Station in München. Die Mannschaft der Ukraine spiele in Deutschland immer auch für "Millionen von Soldaten", sagte er.

Zerstörte Tribüne in Düsseldorf

In Düsseldorf stehen die ramponierten Ränge vor dem Rathaus auf dem Marktplatz. Vor diesen Tribünen trainierte vor zwölf Jahren die ukrainische Nationalmannschaft bei der Heim-EM. Nun zerbombt von den russischen Angreifern. Ein quälender Anblick. Die Sonyachniy-Arena in der Stadt in der Nähe zur russischen Grenze ist inzwischen zerstört. Nach der etwas kopflosen Niederlage (0:3) zum Auftakt gegen Rumänien vermuteten nicht wenige, dass auf den Schultern der Spieler zu viel Druck laste.

Zwar laufen bei einem Turnier die Profis immer für ihre Nation auf. Doch der Angriffskrieg gegen die Ukraine, der nun schon zweieinhalb Jahre tobt, scheint diese Position und Symbolik noch zu erhöhen. Vielleicht hemmt er die Spieler auch. Obwohl viele im Ausland spielen. Die EM-Bühne ist nochmal deutlicher größer als in EM-Qualifikation oder den Playoffs.

All der Horror und Tragik sind präsent. Die ukrainischen Spieler laufen umhüllt von ihrer blau-gelben Flagge auf das Feld, singen stolz die Nationalhymne. Natürlich ist das Setting emotional aufgeladen. Wie könnte es das auch nicht sein? Gegen Belgien-Schreck Slowakei nun also schon wieder ein früher Rückstand. Das Tor tat weh. Von der Seitenlinie klatschte Rebrov aufmunternd und Trubin rannte nach vorne zu seinen Kollegen der Offensivabteilung. Erste Aufbauhilfe.

Es dauerte allerdings etwas, bis sich die Ukraine von dem Schock erholte. Erst rund zehn Minuten nach dem Gegentreffer legte das Team die Fesseln der Nervosität ab und griff entschlossener an. Artem Dovbyk nahm sich ein Herz, tänzelte im Sechszehner die slowakische Abwehr aus, scheiterte aber an Tormann Martin Dubravka. Vier Minuten später zog Oleksandr Tymchyk aus 17 Metern ab, sein Flachschuss rauschte an den Pfosten. Es war die beste Phase der Schowto-blakytni, der Blau-Gelben. Kein Power Play, aber endlich Offensivfußball. Bezeichnenderweise resultierte die einzig weitere Chance der Slowaken aus einem Konter. Haraslin gab von halblinks einen überlegten Flachschuss mit der Innenseite ab – der Ukraine drohte in Minute 44 zum psychologisch ungünstigsten Zeitpunkt der Knockout. Doch Trubin spannte seinen Rettungsschirm wieder auf, tauchte ab und hielt die Hoffnung am Leben. 

Joker verwandelt Traumtor

In der zweiten Hälfte stand der Torwart des portugiesischen Renommierklubs Benfica dann nicht mehr im Mittelpunkt des Geschehens. Es war nun ein anderes Fußballspiel. Eine andere Körpersprache. Was auch immer Coach Rebrov seinen Mannen in der Pause mit auf den Weg gegeben hatte, es zeigte Wirkung. In diesen 45+5 Minuten stürmte beinah nur noch die Mannschaft in den gelben Trikots und den blauen Nummern. Angetrieben von Zinchenko, der die Fans immer wieder mit wilden Ruderarmen animierte, schmiss die Ukraine alles nach vorne.

Die Fans gingen mit, trieben ihre Männer an. U … KRA … YI … NA! U .. KRA .. YI .. NA! U K R A Y I N A! UKRAYINA, hallte es immer schneller werdend von den Rängen.

Von den Slowaken kam nicht mehr viel. Über Mudryk setzte die Ukraine nun mehr offensive Akzente. Der Mann vom FC Chelsea leitete dann auch den Ausgleich ein, als er Duvbyk freispeilte. Über Zinchenko fand der Ball Shaparenko, der direkt mit der Innenseite einschob (54.). Die Ukraine blieb am Drücker. Erst vergaben der eingewechselte Yaremchuk und Mudryk aus Überzahlspiel eine gute Möglichkeit, Mudryks Schuss knallte an den Außenpfosten.

Kurz darauf machte es Yaremchuk besser – traumhaft besser. Einen langen Ball sog er technisch versiert mit dem Span an, ließ den Ball aufprallen und spitzelte ihn eiskalt an Dubravka vorbei (80.). Ein Tor aus einem Guss. Die ukrainischen Ersatzspieler stürmten allesamt aufs Feld zu ihrem Tor-Helden, das Stadion stand Kopf. Energizer Zinchenko kam aus dem Arme-Wedeln gar nicht mehr heraus. Es schien, als fiele eine gigantische Last ab. Ein verdientes Tor. Die Ukraine belohnte sich für eine mutige zweite Halbzeit. In den restlichen Minuten verteidigte die Truppe leidenschaftlich, immer wieder markierten Zinchenko und Co. den Rasen, setzten Zeichen, ballten die Fäuste. Diese Ukrainer wuchsen in Düsseldorf zu Mentalitätsmonstern heran. Nichts mehr zu sehen vom Hadern. 

Ukrainer jubeln emotional

Mit Abpfiff sank Torschütze Yaremchuk auf die Knie, die Mitspieler stürmten zu ihm, umarmten ihn. Andere fausteten ihr Glück in den verregneten Düsseldorfer Himmel hinaus. Drei Punkte für die Ukraine in Gruppe E, die Tür zum Achtelfinale steht ihnen wieder offen. 

"Das war das Spiel unseres Lebens", sagte Yaremchuk bei RTL. "Dank eines guten Geistes haben wir sehr wichtige drei Punkte für unser Land geholt. Es wird sehr schwer für uns, wir haben eine harte Gruppe, unser nächster Gegner ist eine Top-Mannschaft", sagte der Stürmer mit Blick auf die Roten Teufel aus Belgien. "Ich bin so glücklich, das können Sie sich nicht vorstellen", rekapitulierte Trubin, der starke Mann der ersten Halbzeit: "Nach einem fürchterlichen ersten Spiel geben diese drei Punkte frischen Wind."

Trainer Rebrov freute sich über seine Umbesetzung auf der Torlinie. "Er hat heute verdient zu spielen. Ich bin froh über die Entscheidung. Er und Andriy Lunin arbeiten sehr hart, liefern sich einen guten Konkurrenzkampf. Er hat schon gegen Deutschland gezeigt, dass er es verdient hat, dass er ruhig bleibt."

Noch wichtiger aber als die Torwartfrage war Rebrovs Fazit des Tages: "Wir haben verdient gewonnen und die Ukraine stolz gemacht."

Auch Zinchenko hob die Bedeutung des Erfolges hervor und dankte seinen Landsleuten. "Der Sieg ist sehr wichtig. Wir bedanken uns bei allen Fans im Stadion, denen, die in der Ukraine zugeschaut haben, aber vor allem bei unseren Soldaten, die unsere Unabhängigkeit verteidigen und ihr Leben riskieren", sagte der Arsenal-Profi. "Wegen ihnen können wir auf diesem Niveau unser Land vertreten. Nach dem ersten Spiel haben wir viel Kritik bekommen, die auch berechtigt war. Heute haben wir gezeigt, wer wir sind, wer wir als Team sein können."

Martin Armbruster und Emmanuel Schneider, Düsseldorf