30.06.2024 07:13 Uhr

VAR-Wahnsinn sorgt für dänisches Drama

Dänemark haderte mit dem Ausscheiden gegen Deutschland
Dänemark haderte mit dem Ausscheiden gegen Deutschland

Während das deutsche Raumschiff schwerelos durchs Westfalenstadion schwebte - Kurs Viertelfinale -, verstanden die Dänen ihre Fußball-Welt nicht mehr. Das 0:2 im Achtelfinale gegen den favorisierten Nachbarn war schwer. Schwer zu fassen, schwer zu verstehen, schwer zu akzeptieren.

Torwart Kasper Schmeichel blieb minutenlang stehen. Der Kapitän hätte einer der dänischen Helden des Abends sein können. Mehrmals hatte Schmeichel die Dänen mit starken Paraden im Spiel gehalten. Jetzt starrte er geradeaus ins Weite. Ein leerer Blick.

Rechts von Schmeichel hockte Verteidiger Joachim Andersen. Auch er war drauf und dran, ein Held zu werden. Binnen vier Minuten erlebte er eine Achterbahnfahrt der Gefühle: vom vermeintlichen Torschützen zum Verursacher des Elfmeters, mit dem Kai Havertz Deutschland die Tür zur Runde der letzten Acht aufschloss.

Kasper Hjulmand dagegen starrte bei Abpfiff nicht umher. Der Trainer der dänischen Nationalmannschaft gratulierte Konterpart Julian Nagelsmann und ging schnurstracks auf das englische Unparteiischen-Gespann um Schiedsrichter Michael Oliver zu. Hjulmand hatte Redebedarf. Es sei um das Handspiel gegangen, das Dänemark auf die Verliererstraße führte, sagte der frühere Trainer von Mainz 05 auf der Pressekonferenz.

"Wir haben so viele Seminare gehabt, in denen die Regel erklärt wurde, was eine unnatürliche Handbewegung ist. Verteidiger müssen die Hände bewegen, sie müssen laufen, stoppen, springen. Was ist eine natürliche Handbewegung und was ist unnatürlich? Kann mir das mal jemand erklären?", fragte er. Eine gute Frage.

Die Verfechter der "modernen" Handregel werden ins Feld führen, Andersen habe seinen Arm abgespreizt. Keine zwingend nötige Bewegung sei das gewesen, werden sie sagen. Und weil die Flanke von David Raum dem dänischen Abwehrmann nun einmal an die Hand sprang und die Flugbahn veränderte, eben Strafstoß.

Dänen-Coach prangert "Schande" an

Dass Andersens Hand nicht zum Ball ging. Dass Andersen den Weg des Balls in keiner Weise entscheidend änderte, er aus kurzer Distanz vielmehr angeschossen wurde. Dass ein Abwehrspieler im Lauf seine Arme nun einmal "natürlich" bewegt, bewegen muss – all diese Argumente werden die Befürworter des rigiden Hand-Regelwerks nicht gelten lassen.

Im ZDF nannte Hjulmand die wegweisenden Schiedsrichter-Entscheidungen des Abends "eine Schande". Die dänische Fußball-Seele kochte. Im Netz explodierte Danish Dynamite. Und auch neutrale Beobachter wie der frühere ManUnited-Verteidiger Gary Neville waren bedient. "Absolut schockierend", dass es für so etwas Elfmeter gebe, schrieb der Engländer auf X über die Entscheidung seines Landsmanns Oliver. Der hatte erst weiterlaufen lassen, sich die Szene nach einem Hinweis seiner Videokollegen nochmals angeschaut und doch auf den Punkt gezeigt.

Wer kann mir das erklären? Hjulmands Frage nach Hand oder nicht Hand, ließ sich nach dem Achtelfinale freilich auch zu einem anderen, nicht minder wichtigen Moment des Spiels stellen. Der Szene, die das Spiel verändert, ihm eine andere Richtung gegeben hätte – wäre da nicht diese Linie gewesen.

Wenige Minuten vor seinem Vergehen im eigenen Sechszehner hatte Andersen Dänemark in Führung geschossen. Aus kurzer Distanz nach einer Hereingabe in die Gefahrenzone vor Manuel Neuer. Der Schiri zeigte sofort auf den Mittelpunkt. Tor. Der rote Block auf der Nordtribüne tobte, der weiße auf der Süd schwieg betreten. Eine Abseitsposition hatte eigentlich keiner auf dem Schirm. Neuers legendärer Reklamierarm zuckte zwar kurz. Nach oben riss ihn die deutsche Nummer eins aber nicht.

Und doch pfiff Oliver das Tor wenig später nach Videobeweis zurück. Die kalibrierteste aller kalibrierten Linien ergab: Thomas Delaneys Zehen des linken Fußes befanden zum Zeitpunkt der Kopfballverlängerung im Abseits. Eine Zentimeter-Sache. Bundestrainer Nagelsmann sprach später von einer "faktischen" Entscheidung, weil Abseits eben Abseits sei und davon, dass der VAR den Fußball in dieser Hinsicht ein Stück gerechter mache.

"Perversion der Fußballregeln"

Sein dänischer Kollege sah das Ganze nicht so eindeutig. Kasper Hjulmand hatte auch hier Fragen. "Wir reden über einen Zentimeter. Kann das wirklich die zweifelsfreie Wahrheit sein? Ist die Technik so genau? Lässt sich der Zeitpunkt des Abspiels so genau bestimmen?" Während Hjulmand diese Fragen stellte, hielt er sein Handy in die Höhe und zeigte die Grafik. Den Beweis. Delaneys Zehen hinter der unbarmherzig gezogenen Linie zwischen Off- und Onside.

Zur Erinnerung: Die Abseitsregel soll verhindern, dass sich ein im Angriff befindlicher Spieler einen Vorteil verschafft, indem er näher zum Tor steht, als der letzte Abwehrmann der verteidigen Mannschaft. Delaney, so viel lässt sich sagen, hatte keinen Vorteil. Der einst schöne Begriff "gleiche Höhe" ist spätestens mit diesem EM-Achtelfinale beerdigt. Den Satz "im Zweifel für den Angreifer" gibt es ohnehin schon lange nicht mehr. Der Computer soll Zweifel nicht mehr zulassen.

Trainer-Legende Ewald Lienen nannte im Gespräch mit ntv.de das Hin und Her zwischen Minute 48 und 53, zwischen Tor und Aberkennung, zwischen erst weiterspielen lassen und dann nach Ansicht der Bilder Elfmeter pfeifen eine "Perversion der Fußballregeln".

Verliert der Fußball seine Seele? Braucht es wieder andere Regeln? Was sollen Regeln überhaupt regeln? Nach dem Spiel zwischen Deutschland und Dänemark bleiben Fragen. Dieses Mal stellte sie Kasper Hjulmand. Beim nächsten Mal ein anderer, der hadert.