20.02.2024 20:39 Uhr

Der Held von Rom und die Mutter aller Elfmeter

Ein Moment für die Ewigkeit: Andreas Brehme macht Deutschland 1990 zum Fußball-Weltmeister
Ein Moment für die Ewigkeit: Andreas Brehme macht Deutschland 1990 zum Fußball-Weltmeister

Etwas mehr als einen Monat nach dem Tod von Franz Beckenbauer trauert Fußball-Deutschland um eine weitere Weltmeister-Ikone: Andreas Brehme, der Mann, der den Kaiser und seine Mannen 1990 auf den Thron schoss, ist im Alter von 63 Jahren völlig unerwartet gestorben. Nachruf auf einen Alleskönner. 

"Tja - an diesem einen Schuss, meine Damen und Herren, kann der Weltmeister-Titel für die deutsche Mannschaft hängen", stellt ARD-Kommentator Gerd Rubenbauer am späten Abend des 8. Juli 1990 nüchtern fest. Während Millionen Deutsche vor dem Fernseher einen Puls jenseits der 180 haben und sich in akuter Herzkasper-Gefahr befinden, legt sich Andreas Brehme im Stadio Olimpico zu Rom ganz ruhig den Ball auf dem Elfmeterpunkt zurecht. Geht ein paar Schritte zurück und nimmt das Tor ins Visier. 

"Brehme gegen den Elfmetertöter Goycochea", erinnert Rubenbauer die gebannte Nation an die monumentale Aufgabe, die nun vor Brehme liegt. Der läuft an, schiebt den Ball mit dem rechten Fuß unerhört präzise ins linke Ecke - vorbei am blitzschnell abgetauchten Torwart aus Argentinien. Zentimeter neben dem Innenpfosten schmeichelt sich das Leder ins Netz. 

"Jaaaaaaaaaaaaaaaa!", brüllen Rubenbauer und sein Co-Kommentator Karl-Heinz Rummenigge. Und auch der so sonst so coole Brehme lässt seinen Gefühlen freien Lauf, legt einen veritablen Jubelsprung hin, ehe ihn Rudi Völler und die anstürmende Meute seiner Mitspieler auf dem römischen Rasen erdrücken. Deutschland 1. Argentinien 0. Fußball-Weltmeister 1990.

Ein Weltstar mit zwei starken Füßen

Der damals 29-Jährige Brehme hat im entscheidenden Moment die Mutter aller Elfmeter zelebriert, dem schnöden Schuss vom Punkt eine nie dagewesene Ästhetik verliehen. Mindestens ein Jahrzehnt lang haben Bolzplatz-Buben die Szene nachgespielt. Mit rechts, flach ins linke Eck - einmal Andi Brehme sein.

Dieser "Andi", am 9. November (dem Schicksalstag der Deutschen) 1960 in Hamburg geboren, ist 1990 einer der besten Fußballer des Planeten, aus keiner Weltauswahl wegzudenken. Mit Lothar Matthäus und Jürgen Klinsmann bildet er bei Inter Mailand ein Tedeschi-Triumvirat. Brehme regiert auf der linken Außenbahn und ist ein technischer Alleskönner. "Er kann mit links und kann mit rechts", sagt Rubenbauer vor dem goldenen Schuss von Rom. Diese Beidfüßigkeit ist im Fußball damals freilich mitnichten so selbstverständlich wie heute. 

Brehme schießt mit links genauso scharf und präzise wie mit rechts, ist offensiv wie defensiv eine Bank. Der Elfmeter im Endspiel gegen Argentinien ist nicht sein einziger Kunstschuss des Turniers. Im Achtelfinale gegen die Holländer zwirbelt er die Murmel vom Winkel des 16ers aus zum vorentscheidenden 2:0 ins lange Eck.

Wenn es drauf ankommt, ist Brehme stets voll auf der Höhe. Mit dem FC Bayern und dem 1. FC Kaiserslautern wird er deutscher, mit Inter italienischer Meister und UEFA-Cup-Sieger. Der schwarz-blaue Teil Milanos vergöttert den technisch brillanten Blonden bis heute. 

Brehme und Angst? Ach was!

Dass Brehmes Karriere oft auf seinen Elfmeter von Rom reduziert worden ist, mag dem Edel-Fußballer nicht gerecht sein. Aber die Szene bietet nun einmal den ultimativen Helden-Stoff. 

Als Schütze ist Brehme im Finale gegen die von Diego Maradona angeführten Argentinier gar nicht vorgesehen. Er tritt nur auf den Plan, weil sich Matthäus nach einem Schuhwechsel in der Halbzeit plötzlich nicht mehr sicher ist. Und dann steht da dieser Sergio Goycoechea vor ihm, der Argentinien in zwei Elfmeterschießen (gegen Jugoslawien und Italien) mit seinen Paraden, seiner Intuition überhaupt ins Finale gebracht hat.

Die Angst des Tormanns beim Elfmeter? Blödsinn! Brehme muss Deutschland in einem Spiel, in dem in 100 Jahren kein Tor aus dem Spiel heraus gefallen wäre, zum Weltmeister machen. 7,32 Meter ist das Tor breit - und Goycoechea wird gefühlt immer größer, je näher der Ball auf sein Gehäuse zukommt. 

"Angst? Ach was! Ich bin halt hin und hab' geschossen", hat der Heros von Rom den magischen Moment später in seiner herrlich unprätentiösen Art geschildert. Und: "Ich wusste, ich tu' ihn rein." Er tat es. Nordisch nobel. Temperiert auf -271,15 Grad Celcius. Absoluter Nullpunkt gleich absoluter Höhepunkt.

Andi Brehmes Tor des 8. Juli 1990 war ein Moment des Luftanhaltens, des kollektiven Herzstillstands. Jetzt ist der Champion im Alter von nur 63 Jahren gestorben, weil sein Herz einfach aufhörte zu schlagen. Der Tod seines Freundes Franz Beckenbauer Anfang des Jahres hatte Brehme tief getroffen. Nur etwas mehr als einen Monat später ist Andreas Brehme dem Kaiser in den Fußball-Himmel gefolgt. Der nächste gewaltige Herzschmerz. Für Deutschland. Und alle, die den Fußball lieben.

Martin Armbruster