Kehl exklusiv: "BVB hat deutlich mehr drauf"

Sebastian Kehl wurde mit Borussia Dortmund dreimal Deutscher Meister. Über 13 Jahre lang schnürte er für den BVB die Schuhe, führte die Schwarz-Gelben lange Zeit als Kapitän auf das Feld. Im weltfussball-Interview spricht der heute 36-Jährige über die Suche nach den "echten Derbytypen", die sportlichen Probleme seiner Borussia und seine große soziale Verantwortung.
Herr Kehl, am Wochenende hat sich Ihr langjähriger Verein Borussia Dortmund zu einem 0:0 im Revierderby gegen den FC Schalke 04 gemüht. Wie fiel Ihr Fazit nach der Partie aus?
Sebastian Kehl: Es war eine Partie mit zwei verschiedenen Halbzeiten. In den ersten 45 Minuten hat es so gut wie keine Torchancen gegeben. In der zweiten Halbzeit war der BVB dann zumindest überlegen, auch wenn es durch die gute defensive Stabilität der Schalker nicht zu einem Tor gereicht hat. Insgesamt war es sicher nicht das beste und spannendste Derby, auch wenn es sehr umkämpft zuging.
In der Diskussion rund um das Spiel wurde immer wieder angemerkt, dass mittlerweile die "echten Derbytypen" fehlen, gerade auf Dortmunder Seiten. Sie galten ja damals als eben jener und haben selbst 17 Ruhrpott-Derbys bestritten.
Alleine aufgrund der Altersstruktur können die Jungs beim BVB ja noch gar nicht so viele Derbys gespielt haben. Ich glaube, die Brisanz rund um dieses Spiel ist trotzdem jedem bewusst und spürbar. Auch die Neuzugänge verstehen sehr schnell, was dieses Spiel für die Fans und die Region bedeutet. Aber klar: Richtige Derbytypen entstehen erst, wenn man länger dabei ist und schon einige hitzige Duelle selbst gespielt hat!
Was ist denn im Moment los mit Ihrer Borussia? Mittlerweile ist Dortmund seit vier Spielen ohne Sieg, steht in der Tabelle nur noch auf Platz 6 - punktgleich mit Frankfurt und Freiburg.
Die Verletztensituation hat in den letzten Wochen natürlich eine große Rolle gespielt. Das hat auch zur Folge, dass sehr viele junge Spieler derzeit ständig auf dem Platz stehen müssen. Außerdem müssen die Neuzugänge in der Saison selbst noch weiter integriert werden. Das braucht Zeit. Fehlende Konstanz ist damit erklärbar. Das Team bekommt relativ viele Gegentore für ein Spitzenteam, auch wenn sie das durch die offensive Power oft vergessen machen konnten. Insgesamt hat die Mannschaft noch deutlich mehr drauf, die Qualität im Kader ist riesig, und das konnte man schon des Öfteren eindrucksvoll sehen. Nicht umsonst spielen sie in der Champions League bislang eine tolle Saison und können bereits im nächsten Spiel das Achtelfinale klarmachen.
In der Liga ist die Lücke nach ganz oben dennoch schon beträchtlich.
Wenn man sich die Punkte in der Liga anschaut, dann ist der Abstand nach vorne schon recht groß und es wäre schade, wenn die Borussia bereits jetzt den Anschluss nach oben verliert. Zudem stehen in der Tabelle mehrere Mannschaften vor dem BVB, von denen es vielleicht nicht erwartet wurde. Das zeigt aber einfach, dass auch viele andere Klubs sehr, sehr gut arbeiten und dass es nicht so einfach ist, sich oben durchzusetzen.
In der Bundesliga geht es weiter gegen Hamburg, Bayern und Frankfurt – also Gegner mit jeweils völlig unterschiedlichen Ausgangspositionen. Worauf wird es die nächsten Wochen ankommen?
Dranzubleiben, weiter mutig zu sein und die derzeitigen Probleme anzunehmen. Vielleicht wird es gegen den HSV personell wieder ein paar Veränderungen geben, das würde dem ein oder anderen jungen Spieler auch gut tun. Danach ist erst einmal Länderspielpause, die sicher genutzt werden wird um verletzte Spieler wieder näher heranzuführen. Die Pause kommt zum richtigen Zeitpunkt.
Wie wichtig sind die drei November-Spiele also im Hinblick auf die weitere Saison?
Die nächsten Begegnungen sind absolut richtungweisend. Die Gegner, die jetzt kommen, stehen ja auch unter Druck. Der HSV als nächster Gegner steckt in keiner einfachen Situation, das ist eine undankbare Aufgabe dort. Das Spiel gegen Bayern wird erneut ein Kräftemessen, und die Eintracht spielt auch eine richtig gute Saison, gerade gegen die Top-Teams. Das Entscheidende wird sein, dass der BVB die Qualität abruft und zu seiner Konstanz zurückfindet.
Die Liga spielt derzeit insgesamt etwas verrückt: Leipzig steht auf Rang zwei, Hoffenheim auf drei und Köln auf vier. Dem gegenüber stehen Teams wie Leverkusen, Gladbach oder Wolfsburg nur in der unteren Hälfte. Wie wird sich das im Laufe dieser Saison fortsetzen?
Leipzig ist insgesamt sehr gut aufgestellt. Nicht nur personell, sondern auch strategisch. Ralf Rangnick hat es schon häufiger geschafft, seine Mannschaften so zusammenzustellen, dass diese für große Überraschungen sorgen können. RB Leipzig besitzt großes Potenzial, um länger oben dabei zu bleiben. Auch die Kölner haben sich in den letzten Jahren immer weiter nach vorne gearbeitet. Sie arbeiten sehr ruhig, haben das Umfeld mittlerweile in den Griff bekommen. Deswegen haben sie glaube ich auch eine tolle Perspektive. Und auch die Frankfurter, Berliner und Hoffenheimer haben sich neu aufgestellt, einen klaren Plan, und ziehen diesen durch. Dadurch entsteht Selbstvertrauen. Ich kann mir gut vorstellen, dass das ein oder andere Team auch länger oben dabeibleiben wird.
Was läuft denn bei den zahlreichen großen Teams falsch, die noch nicht so zum Zuge kommen gerade?
Personell sehe ich einige Teams deutlich besser als es die Tabellensituation derzeit darstellt. Man sieht aber auch, wie viel Unruhe es in manchen Klubs gibt. Hamburg bekommt es seit Jahren nicht auf die Reihe, trotz vieler Investitionen. Der Trainerwechsel hat auch noch nicht den erhofften Effekt gebracht. Bei Wolfsburg ist es ganz ähnlich. Trotzdem denke ich, dass diese Mannschaften, vor allem der VfL Wolfsburg, sich noch nach vorne bewegen werden und vielleicht auch noch das internationale Geschäft erreichen. Generell zeigt sich im Moment, wie wichtig ein ruhiges Arbeiten in einem Verein in der Bundesliga ist. Das strahlt der ein oder andere Klub einfach nicht aus.
Ganz oben steht erwartungsgemäß der FC Bayern. Werden die Münchner sich ohne weiteres den fünften Titel in Serie holen?
Für mich waren und sind die Bayern absoluter Favorit auf den Titel. Mit dem neuen Trainer mögen vielleicht nicht alle Dinge direkt ineinandergreifen. Es konnte aber auch keine andere Mannschaft ausnutzen, dass sie schon ein paar Federn gelassen haben. Ich glaube, dass der FC Bayern in der entscheidenden Phase wieder voll da sein und am Ende auch den Titel holen wird.