16.06.2024 11:03 Uhr

Erschreckend passive Ungarn machen keine Angst

Verzweiflung: Dominik Szoboszlai und den Ungarn gelang gegen die Schweiz so gut wie nichts
Verzweiflung: Dominik Szoboszlai und den Ungarn gelang gegen die Schweiz so gut wie nichts

Während auch die Schweizer im Land der Nachbarn eine EM-Euphorie entfachen, präsentiert sich Ungarn bei der 1:3-Pleite gegen die Eidgenossen in Gruppe A erschreckend schwach. Für das Spiel gegen Deutschland am Mittwoch malt der Trainer der Magyaren ziemlich schwarz.

Noch keine Stunde war an diesem Samstagnachmittag in Köln gespielt, da passierte dem ungarischen Spielmacher Dominik Szoboszlai gegen die Schweizer etwas sehr Amateurhaftes.

Eine einfache Ballannahme, für den Profi des FC Liverpool sonst so selbstverständlich wie das Ein- und Ausatmen, misslang. Der Ball gehorchte Szoboszlai nicht, rutschte dem technische besten Ungarn durch die Beine ins Toraus und ließ den 23-Jährigen verzweifeln. Eine Szene mit Symbolcharakter. Gaben die Schweizer das Spielgerät einmal her, wussten die Magyaren kaum etwas damit anzufangen.

Und doch hätte das Duell der deutschen Gruppengegner noch eine Wende nehmen können. Weil die Schweizer in den Verwaltungsmodus geschaltet hatten und sich dabei selbst ein wenig einschläferten, durfte es Szoboszlai noch einmal versuchen. Rund zehn Minuten nach seinem Stockfehler flankte er die Murmel butterweich in den Strafraum der "Nati", Barnabás Vargas musste seinen Scheitel nur noch leicht nach vorne bewegen, um Torwart Yann Sommer zu überwinden. Ungarn 1, Schweiz 2. Ein zuvor völlig einseitiges Spiel war wie aus dem Nichts wieder offen – und plötzlich war Stimmung in der Bude.

Die ungarischen Fans, zuvor von "Hopp-Schwyz"-Rufen und Kuhglocken über weite Strecken in die Defensive getrieben, machten Alarm. Ein paar Minuten schien es, als müsse sich die Schweiz auf eine heiße Schlussphase einstellen. Aber eben nur ein paar Minuten. In dieser vielleicht viertelstündigen Zeitspanne wog das zweite Spiel in Gruppe A hin und her. Dann stellten die Ungarn das Angreifen wieder ein, der Schweizer Ballverteiler Granit Xhaka kommandierte die Eidgenossen zurück in die Hälfte des Gegners.

Ungarn nur ein Schatten früherer Tage

Nach einem haarsträubenden Fehler von Leipzigs Willi Orban machte Breel Embolo in der Nachspielzeit alles klar. Dass sich ihm beim Lauf aufs ungarische Gehäuse ein Kompressionsstulpen, eine Muskelhilfe, vom Bein schälte, war egal. Auch Embolos Tor hatte Symbolcharakter: Die Schweizer mussten an diesem Tag gar nicht all ihre Muskeln spielen lassen, um souverän zu gewinnen. Die Ungarn waren schlicht und einfach zu schwach.

Einen derart blutleeren Auftritt der Ungarn hatte im Vorfeld keiner erwartet. Schließlich eilt ihnen seit ein paar Jahren der Ruf voraus, ein äußerst unbequemer Gegner zu sein. Schwer zu bespielen, wie es heutzutage so schön heißt.

Kompakt, gut organisiert, zweikampfstark und mit effizienten Nadelstichen der Offensivabteilung hat die Mannschaft des Italieners Marco Rossi in den vergangenen Jahren einigen favorisierte Gegnern das Leben schwer gemacht. Bei der EM 2021 etwa, als die deutsche Elf in München gegen die Ungarn nur mit Ach und Krach ein 2:2 erkämpfte und das Achtelfinal-Ticket löste. Oder ein Jahr später beim 1:0-Sieg der Rossi-Mannschaft in Leipzig gegen den viermaligen Weltmeister.

Auch in der EM-Qualifikation hatte sich Ungarn keine Blöße gegeben, marschierte ungeschlagen durch Gruppe G. Umso erstaunlicher, wie selbstbewusstlos die Mannschaft in Köln auftrat. "Es ist schwer zu sagen, dass heute irgendjemand gut war, von zwei, drei Ausnahmen abgesehen", stellte Trainer Rossi nach dem Spiel fest. Eine dieser Ausnahmen war Torwart Peter Gulacsi. Ohne den Routinier von RB Leipzig wäre es nicht bei drei Gegentreffern geblieben.

Ungarn-Trainer: Deutschland der Topfavorit auf den Titel

"Die erste Halbzeit war sehr schlecht. Wir waren zu passiv", kritisierte Rossi. In der Tat ließen die Ungarn den Eidgenossen rätselhaft viele Räume, pressten nicht, ließen Leverkusens Meisterheld Xhaka im Mittelfeld ungestört seine Fäden spinnen. Die Schweizer nutzten die Räume. Mit einem verhältnismäßig einfachen Pass in die Gasse hebelte Michel Aebischer in seinem ersten EM-Spiel die Defensive der Ungarn aus, der frühere Nürnberger Kwadwoh Duah (ebenfalls EM-Debütant) brauchte in Minute zwölf nur noch einzuschieben.

Zu viele seiner Spieler hätten gegen die Schweiz nicht ihre gewohnte Leistung gebracht, monierte Rossi. "Es gibt nicht viele Strategien, um individuelle Fehler zu verhindern." Der Italiener nahm sich selbst in seiner Generalkritik nicht aus. "Ich bin der Trainer und muss meine Verantwortung tragen", sagte er und sprach von einem "taktischen Missverständnis".

Rossis Konterpart Murat Yakin – in der Schweiz nach einer schwierigen Qualifikation unter Druck – hatte den 59-jährigen Taktik-Fuchs mit seiner Formation überrascht. Die "No Names" Aebischer und Duah hatte keiner auf dem Zettel.

"Man muss das Beste aus seinen Qualitäten machen", sagte Yakin genüsslich. Die Schweiz tat dies, die Ungarn nicht. Bei weitem nicht.

Ein Sieg gegen Deutschland am Mittwoch schaue nach der trostlosen Vorstellung gegen die Schweizer "unmöglich" aus, befand Rossi und lobte die DFB-Elf. "Deutschland ist ein anderes Team als bei der letzten Europameisterschaft, das haben sie gegen Schottland bewiesen. Meiner Meinung nach sind die der größte Favorit."

Gewinnt die Mannschaft von Bundestrainer Julian Nagelsmann das Spiel gegen die jetzt arg unter Druck stehenden Ungarn in Stuttgart, ist das Achtelfinale so gut wie sicher. Nach den Eindrücken des 1. Spieltags in Gruppe A lässt sich festhalten: Die Chancen stehen mehr als gut.

Martin Armbruster, Köln