Dank Bayern-Ikone: Underdog träumt von EM-Magie

Georgien startet als krasser Außenseiter ins EM-Turnier. Den größten Erfolg hat das Team aber schon hinter sich. Beteiligt sind maßgeblich ein ehemaliger Star des FC Bayern, zwei Ex-Bundesligaprofis und ein Jahrhunderttalent.
Fußball ist manchmal gar nicht so einfach: Kann man etwa mit nur zwei gewonnen Spielen in der EM-Qualifikation bei der EURO mitmischen?
Georgien kann. Und jetzt wird’s etwas komplizierter: Das Team von Trainer Willy Sagnol belegte in seiner Quali-Gruppe mit acht Punkten zwar nur Rang vier hinter Spanien, Schottland und Norwegen, belohnte sich aber per Umweg für seinen Erfolg in der Nations-League-Gruppe C4 aus der Saison 22/23. Denn der Triumph in der einst viel kritisierten Nations League bescherte der Mannschaft die Playoffs im Kampf um ein weiteres EM-Ticket.
In einem Viererturnier setzte sich Georgien dann erst gegen Luxemburg (2:0) und dann im entscheidenden Spiel gegen die favorisierten Griechen durch. Nach einem 0:0 ging es in der georgischen Hauptstadt Tiflis ins Elfmeterschießen, das Georgien 4:2 gewann.
Einzigartige Emotionen nach Playoff-Spektakel
Nach dem entscheidenden Elfmeter brachen im Stadion die Dämme. Es war eine magische Nacht für das Land. "Ohne zu übertreiben: Für dieses Gefühl lohnt es sich zu leben", sagte Verbands-Vizepräsident Alexander Iashvili dem Magazin "11 Freunde" über diesen Fußballabend. "Ich bin vor Freude fast ohnmächtig geworden", berichtete Kapitän Guram Kashia.
Beileibe kein gewöhnlicher Erfolg. Er ist historisch. Zum ersten Mal überhaupt qualifizierte sich das kleine Land mit nur 3,7 Millionen Einwohnern für ein großes Turnier. Nach zuvor 14 erfolglosen Anläufen.
Jetzt also EM-Euphorie im Südkaukasus. Die Ausgangslage aber ist klar: Georgien ist vermutlich der größte Außenseiter bei diesem Turnier.
Einer der Väter des Erfolges und vielleicht sogar größte Star der Mannschaft ist Trainer Willy Sagnol. Eine Bayern-Ikone, die in München einst die Champions League gewann und fünf Mal Deutscher Meister wurde. Als Trainer allerdings blieben ihm größere Erfolge noch verwehrt. Nach ersten Stationen im französischen Verband und bei Girondis Bordeaux kehrte er zum FC Bayern zurück, arbeitete als Assistent von Carlo Ancelotti. Die Amtszeit des Italieners endete frühzeitig und so musste Sagnol, der immerhin ein Spiel als Interimstrainer coachen durfte, auch wieder gehen.
2021 dann heuerte der Franzose beim georgischen Verband an. Und vielleicht war dieser Überraschungstransfer sowohl für Sagnol als auch das Nationalteam das Beste, was beiden passieren konnte.
Der Coup mit Willy Sagnol
Verpflichtet haben ihn die beiden starken Männer im Verband. Alte Bundesliga-Bekannte und Freunde. Seit 2015 steht Levan Kobiashvili (früher beim SC Freiburg, FC Schalke und Hertha BSC) als Präsident an der Spitze, ein Jahr später folgte der Ex-Freiburger Alexander Iashvili als sein Vize.
Kurioserweise misslang der Start in die Sagnol-Amtszeit mal so richtig. In den ersten neun Spielen gab es sieben Niederlagen und nur einen Sieg. Auch die erste WM-Qualifikation für das Turnier in Katar verpasste er mit seiner neuen Mannschaft deutlich. Aber die Geduld zahlte sich aus. Inzwischen steht Sagnol bei einer Bilanz von 17 Siegen, 12 Niederlagen und fünf Remis.
Und nach der großen Überraschung in den Playoffs samt historischem Coup redet auch keiner über die mittelmäßigen Ergebnisse in der EM-Quali, wo es gegen Spanien sogar eine Rekordniederlage (1:7) gab und nur zwei Siege gegen Zypern heraussprangen. Geschenkt.
Aus dem Kader stechen nur wenige Spieler heraus. Im Gegensatz zu vergangenen Zeiten gibt es nur einen Bundesliga-Legionär. Budu Zivzivadze, Torschütze im Playoff-Halbfinale, spielt wie einst die Ex-Bundesliga-Spieler Kobiashvili und Iasvhili im Badischem, allerdings einige Kilometer nördlich von Freiburg in Karlsruhe. Beim KSC ist der 30-Jährige eine feste Größe, erzielte in der vergangenen Saison zwölf Tore in der 2. Bundesliga.
Kvaradona schultert die Hoffnungen
Noch treffsicherer im Nationalteam ist ein Mann, der in dem Kultort von Diego Maradona verehrt wird.
Khvicha Kvaratskhelia ist das größte Talent und Idol Georgiens – vielleicht jetzt schon der größte georgische Spieler überhaupt. Über Dinamo Tiflis und Stationen in Russland landete er 2022 in Neapel und schlug sofort ein. Da sein Name nicht nur italienischen Zungen eher schwierig über die Lippen kommt, fand sich schnell ein griffiger Spitzname: Kvaradona: Ist einfacher und bringt den Vergleich zum größten Ziehsohn der Stadt sofort auf den Punkt.
Und der Angreifer, der mit links und rechts abschließen kann, lieferte. 2022/23 traf der Linksaußen 13 Mal für Napoli, brachte aber auch immer wieder seine Kollegen in Szene und sammelte zwölf Assists, wurde zum Spieler der Serie-A-Saison gewählt. Die SSC Neapel feierte den Überraschungstitel (den ersten seit Maradonas Tagen) und Kvaradona hatte einen großen Anteil daran. Zwar fielen die Himmelsblauen in der zurückliegenden Saison stark ab und wurden nur Zehnter – Kvaratskhelia aber zeigte mit elf Toren und acht Vorlagen erneut sein großes Potential.
Im Nationalteam ist er zweifellos der große Hoffnungsträger, steht bei 15 Toren. Eine Zahl verdeutlicht die Ausnahmestellung des 23-Jährigen. Der Marktwert des Kaders beträgt laut einschlägigem Portal 161 Millionen Euro, Kvaratskhelia alleine steht bei 80 Millionen Euro. Also fast der Hälfte. Auf ihn werden sich zum Start die meisten Augen richten.
EM-Debüt im Hexenkessel
Die "Dschwarosnebi" starten gleich mal mit einer schwierigen Aufgabe ins Turnier. Am Dienstagabend (18 Uhr im sport.de-Ticker) wartet beim EM-Debüt gegen die Türkei eine hitzige Auswärtsatmosphäre. Tausende türkische Fans werden das Stadion in Dortmund ziemlich sicher zum Hexenkessel machen. Es gibt leichtere Spiele.
In der Gruppe mit Tschechien, Türkei und Favorit Portugal dürfte nach menschlichem Ermessen für Georgien nach der Vorrunde Schluss sein. Alles andere wäre eine noch größere Überraschung als die Quali selbst.
Oder hat die Mannschaft von Sagnol doch das Zeug zum Favoritenschreck? Vermutlich eher nicht. Aber das müssen sie auch gar nicht. Die Magie, sie ist schon geschehen. Der Erfolg gegen Griechenland, die erste Quali ist schon Sensation genug. Jedes Spiel, jeder Treffer, jeder Punkt bei dieser EM in Deutschland ist eigentlich nur Bonus.
Trotzdem will man allen erneut etwas beweisen. Kapitän und Rekordspieler Kashia gibt die Richtung vor: "Wir werden kämpfen wie nie zuvor. Wir wollen zeigen, dass wir es verdient haben, hier dabei zu sein."
Emmanuel Schneider