04.12.2015 09:00 Uhr

Lazio: Adler im Sinkflug

Stefano Pioli (r.) ist derzeit häufig als Tröster seiner Spieler gefragt
Stefano Pioli (r.) ist derzeit häufig als Tröster seiner Spieler gefragt

Schnörkelloser Offensivfußball, aufstrebende Stars und gnadenlose Effektivität vor dem Tor: Vor wenigen Monaten noch wurde Lazio wie kaum ein anderes Team auf dem Stiefel gefürchtet. Nun versinken die Adler wieder im Mittelmaß, obwohl sich personell nicht viel verändert hat. weltfussball schaut sich die Lage bei den Himmelblauen mal genauer an.

Er hätte der Held des Abends werden können. Gleich zwei Mal drückt der eingewechselte Miroslav Klose den Ball am vergangenen Wochenende für Lazio in Empoli über die Linie und holt jeweils zum Jubeln aus – doch beide Male werden dem 37-Jährigen die Treffer aberkannt.

Beim ersten Tor soll Klose Keeper Skorupski den Ball aus den Händen gestochert haben, was auch anhand der Fernsehbilder nicht klar aufzulösen ist. Den zweiten Treffer staubt der Weltmeister scheinbar sauber ab, doch wird auch das Tor wegen einer Millimeter-Abseitsentscheidung nicht gegeben. Zwei haarige Szenen, in denen beide Male im Zweifel nicht für den Angreifer entschieden wurde.

So bleibt es beim 0:1, Lazios vierter Niederlage in den letzten fünf Partien. "Uns wurden zwei reguläre Treffer aberkannt, und das kommt nicht zum ersten Mal vor in dieser Saison. Wir haben diese Spielzeit große Probleme, da zählt jeder Punkt. Sowas haben wir nicht auch noch verdient", regt sich Sportdirektor Igli Tare nach der Partie mächtig auf.

Die Nerven liegen sichtlich blank bei den Biancocelesti, schließlich wird aus dem Geheimtipp für den Scudetto allmählich wieder die Graue Maus, die Lazio nie sein wollte, zu der sich die Adler angesichts von Platz 10 und zehn Punkten Rückstand auf die Champions-League-Plätze allerdings mehr und mehr entwickeln.

Leistungsträger in der Abwärtsspirale

Dabei herrschte noch vor einem halben Jahr eitel Sonnenschein im Olimpico. Nach einer ordentlichen Hinrunde drehte Roms Umlandklub in der Rückrunde richtig auf und spielte die Gegner reihenweise an die Wand – zwölf Siege aus 19 Partien konnte sonst nur noch Serienmeister Juventus vorweisen. Der von vielen Experten bescheinigte schönste Fußball Italiens schrammte am Ende nur knapp an der Vizemeisterschaft vorbei und wurde erst in der Verlängerung von Juve um den Pokalsieg gebracht.

Obwohl sich personell bei der Società Sportiva kaum etwas änderte und alle Stars gehalten werden konnten, befinden sich die Adler aktuell in einem ungeahnten Tiefflug. Symptomatisch ist vor allem der Abstieg der drei Stars Felipe Anderson, Antonio Candreva und Miroslav Klose.

Der Brasilianer galt nach seinem Durchbruch als wieselflinker Spielmacher Anfang des Jahres als kommender Superstar der Liga, hängt diese Saison aber auch verletzungsbedingt durch und kann kaum noch mit seinen schnellen Antritten glänzen. Auch Klose, letztes Jahr bester Lazio-Schütze, plagen Blessuren. Dazu kommt, dass kaum noch verwertbare Zuspiele aus dem Mittelfeld in die Spitze stoßen – Candrevas einst so gefürchtete Flanken landen in dieser Spielzeit viel zu oft im Nirwana.

Pioli als Opfer verfehlter Transferpolitik?

Klar, dass bei ausbleibendem Erfolg auch der Trainer infrage gestellt wird. Auch wenn er bei Lazio Stefano Pioli heißt und als Architekt des durchschlagenden Erfolgs der vergangenen Saison gilt. Im Frühling noch war es der bedingungslose Offensivfußball, der Fans und Medien gleichermaßen begeisterte und den bis dato eher unbekannten Trainer höchste Meriten einbrachte. Nun erntet der Übungsleiter vor allem Kritik für sein Defensivkonzept, das mit 22 Gegentoren der Hintermannschaft eines Abstiegskandidaten gleichkommt.

"Es ist mehr ein mentales als ein taktisches oder physisches Problem. Ohne positive Resultate sinkt auch das Selbstbewusstsein. Aber ich sehe noch kein Desaster: Ich glaube wirklich, dass wir wettbewerbsfähig in allen Mannschaftsteilen sind", sagt der Trainer und versucht damit auch von der verfehlten Transferpolitik abzulenken. Schon letztes Jahr galt Lazios Defensive als anfällig, wurde aber meist von der überragenden Offensivpower kaschiert.

Nun, wo es auch im Sturm hakt, wirkt der Ausfall eines Stefan de Vrij, der nach einer komplizierten Knie-OP bis Saisonende ausfällt, umso schwerer. Dem Team fehlt mehr denn je ein Abwehrchef, der die jungen Neuzugänge führt und ihnen Sicherheit gibt. Dennoch wurden die Verträge von erfahrenen Haudegen wie Lorik Cana oder Michaël Ciani aufgelöst bzw. nicht verlängert. Im Januar soll auf der Position des Innenverteidigers nachgerüstet werden, dennoch wird der Gegenwind auch für den Ex-Lauterer Tare bereits spürbar stärker.

Morrison: 51 Minuten Italien und zurück

Dass die Verstärkungen der Biancocelesti in diesem Jahr noch keine sind, zeigt auch der Fall Ravel Morrison: Englands ehemaliger U21-Nationalspieler kam als große Hoffnung für das offensive Mittelfeld von West Ham United, erhielt prompt die Rückennummer 7 und wurde bereits vor seiner Ankunft mit Felipe Anderson verglichen. Doch dem Talent fällt die Integration in Italien unerwartet schwer. "Er spricht immer noch kein Wort Italienisch, das macht es für ihn und uns nicht leicht", kritisierte ihn Coach Pioli öffentlich.

Vergangene Woche dann der Eklat: Morrison sollte beim Europa-League-Spiel gegen Dnipro mal wieder im Kader stehen und eine Chance erhalten. Allerdings stieg der eigenwillige Techniker stattdessen auf eigene Faust in einen Flieger nach England, ohne jegliche Erlaubnis des Vereins.

In den italienischen Medien zunächst als große Frechheit dargestellt, konnte die Abwesenheit später durch den Spieler mit dem Todesfall der Großmutter begründet werden. Dennoch scheint das Tischtuch bereits jetzt zerschnitten. Nach nur 51 Serie-A-Minuten sollen sich Morrison und sein Berater bereits wieder in der Premier League für einen Wechsel in diesem Winter anbieten.

Und jetzt gegen die Alte Dame, die wieder die Alte ist

Ausgerechnet jetzt kommt der wiedererstarkte Rekordmeister nach Rom. Juventus hat sich nach katastrophalem Saisonstart eindrucksvoll gefangen und strebt mit Hochdruck Richtung Tabellenspitze. Vier Ligasiege in Serie, das Weiterkommen in der Champions League souverän eingetütet und die zahlreichen Neuzugänge integriert – dazu sind die Bianconeri das Team, das Lazio bereits letzte Saison zweimal in der Liga schlagen konnte, das Pokalfinale gewann und die Adler auch im Supercup zu Beginn dieser Spielzeit klar demütigte.
>> Die Partie am Freitag ab 20:45 Uhr im weltfussball-Liveticker

Keine Chance also für Lazio? Pioli: "Wir haben zwei Möglichkeiten: Raus gehen und hoffen nicht zu verlieren, oder mutig sein und fest an den Sieg zu glauben. Für mich wird es immer nur die zweite Option geben."

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Johann Mai