18.11.2023 13:14 Uhr

Als Özil den gnadenlosen Pfiffen trotzte

Mesut Özil verzichtete nach seinem Treffer auf den Jubel
Mesut Özil verzichtete nach seinem Treffer auf den Jubel

Wenn Deutschland auf die Türkei trifft, sind das oft besondere und emotionale Spiele. Vor 13 Jahren zog in einer denkwürdigen Partie ein Profi maximalen Fokus auf sich: Mesut Özil. Erst wurde der damals 21-Jährige im Heimstadion gnadenlos ausgepfiffen, dann lieferte er. Später traf Özil zwei Politiker von Weltrang, die ihn stark beeinflussen sollten.

Nein, von einer wirklichen Heimspielatmosphäre kann an diesem Herbstabend keine Rede sein - obwohl die DFB-Elf zuhause spielt. Im Berliner Olympiastadion. An dem Ort, an dem 2006 im Sommermärchen Argentinien im Elferschießen legendär niedergerungen worden war.

Es ist Oktober 2010, es steht das Spitzenspiel der Gruppe A in der EM-Qualifikation an. Deutschland empfängt die Türkei. Kein Spiel wie jedes andere.

Offiziell ist die Partie ein Heimspiel für das DFB-Team und für Mesut Özil. Aber die Stimmung ist eher die eines feurigen Auswärtsspiels in einem Hexenkessel. Wenn man nur zuhört, könnte es auch ein Stadion in Istanbul sein.

Özil bei jeder Ballberührung ausgepfiffen

Tausende türkische und türkischstämmige Fans sitzen im Berliner Olympiastadion, hüllen es in Rot, peitschen ihr Team nach vorne. Und viele pfeifen Özil brutal aus – bei jeder Ballberührung. Es werden auch Schmähgesänge gegen ihn angestimmt. Wie es in dem als ruhig bekannten Özil in diesen Momenten aussieht, ist wohl nur sehr schwer nachzuvollziehen.

Viele türkische Fans nahmen ihm die Entscheidung übel, für das deutsche Team zu spielen und nicht für die Türkei, der Heimat seiner Eltern. 2009 hatte Özil sein Debüt im deutschen A-Team gefeiert und sich dadurch "festgespielt". So schlug dem deutschen Mittelfeldstrategen also lautstarke Ablehnung und Feindseligkeit entgegen.

Und Özil? Der Spielmacher bleibt äußerlich entspannt, verzieht kaum eine Miene, zieht sein Spiel auf. Heißt: Er zieht die Fäden im DFB-Team, hat selbst durch einen Fernschuss mit seinem schwachen Fuß eine große Chance zur Führung (16.). Die besorgt dann kurz vor der Pause Miroslav Klose (42.).

"Ausgerechnet Özil"

Es kommt, wie es kommen muss: In der Endphase der Partie (79.) trifft Özil dann selbst. "Ausgerechnet Özil", ruft ZDF-Kommentator Bela Rethy treffend. Nach dem Tor verzichtet Özil demonstrativ auf einen Jubel, lächelte nur kurz und trottet zurück in die eigene Hälfte. Die deutschen Fans jubeln, die türkischen pfeifen und schimpfen. Als dann Klose noch das 3:0 macht, ist der deutliche Sieg perfekt. Özil hat die Berliner Feuertaufe bestanden. "Die Pfiffe taten nicht nur in den Ohren weh. Der Zauberer fand in Halbzeit zwei ins Spiel und jubelte still über sein Tor", schrieb die "Deutsche Presse-Agentur".

Dieser Abend steht vielleicht sinnbildlich für seine Karriere. Er steht immer im Vordergrund, wird kritisiert, glänzt und polarisiert. Allen macht er es nicht recht.

Anschließend wird es historisch - weil die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel in die Katakomben des Stadions stiefelt und dort ein öffentlichkeitwirksames Bild mit dem Mittelfeldspieler machen lässt. Özil, nur mit Handtuch bekleidet, schüttelt der Kanzlerin im Blazer in einem Massageraum etwas schüchtern die Hand. Das Foto geht um die Welt und löst Diskussionen aus. Der DFB beschwert sich, weil der Besuch im Innersten des Teams nicht abgesprochen gewesen sei.

Historisches Bild mit Merkel

Die beiden, Spieler und Spitzenpolitikerin, plauschen kurz miteinander. "Gerade Özil hatte es schwer an diesem Tag. Aber er ist mit der Belastung und den ständigen Pfiffen großartig umgegangen", sagte Merkel hinterher. Später soll sie Özil noch mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan in Kontakt gebracht haben. Auch der türkische Politiker hatte das Spiel von der Ehrentribüne aus gesehen. An diesem Abend sehen sich die beiden zum ersten Mal, sprechen kurz miteinander.

Davon erzählt der neue Podcast "SchwarzRotGold. Mesut Özil -  Zu Gast bei Freunden" auf RTL+ detailliert.

2010 ist in jeglicher Hinsicht ein besonderes Jahr für Özil. Im Sommer gelingt ihm mit dem DFB-Team und erfrischendem Offensivfußball eine echte WM-Überraschung: Deutschland wird Dritter. Schließlich wechselt er von Werder Bremen zum Weltklub Real Madrid, trifft im Trikot der DFB-Elf gegen die Türkei und lernt Erdoğan kennen – im November erhält er dann sogar den Bambi für Integration (den später auch Bushido erhalten sollte). Özil auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Ein Idol.

Doch dabei bleibt es bekanntlich nicht.

Auf den absoluten Höhepunkt mit dem WM-Erfolg 2014 folgt vier Jahre später in Russland das historische Aus. Özil wird zum Buhmann und löst wegen seiner Fotos mit Erdogan im Vorfeld heftigste Diskussionen aus. Es folgt der Abgang mit Knall. Özil tritt mit einem Statement und vielen Vorwürfen gegen den DFB zurück, die Entfremdung ist endgültig vollzogen. Sie hält bis heute an.

Emmanuel Schneider